Die Islamisten müssen eingebunden werden

Es müssen viele Faktoren erfüllt werden, um eine Position einnehmen zu können, die die Islamisten nicht unterdrückt, ihnen aber auch nicht den Boden aufbereitet.
Heute haben wir Vertreter verschiedener politischer Parteien, in erster Linie der Opposition, getroffen. Darunter war auch eine laizistisch-republikanische Oppositionsgruppierung, deren Repräsentanten sich beklagten, dass sie oft als Gegenpol zu den Islamisten missbraucht werden, ohne dabei entsprechende Unterstützung oder die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung zu erhalten.
Wir trafen außerdem den Parlamentspräsidenten sowie mehrere Ausschussvorsitzende. Bei unseren Gesprächen ging es ebenfalls um internationale Fragen in der gesamten Region. Der Parlamentspräsident übt sein Amt bereits 17 Jahren aus und ist eine Stütze des Mubarak-Regimes. Er bedient sich einer geschickten Argumentation und scheint durchaus flexibel. Aber seine Einflussmöglichkeiten sind auch entsprechend begrenzt, nachdem fast alles von Mubarak einem kleinen Mitarbeiterstab vorgegeben wird. Trotzdem spielt er für das Regime keine unwichtige Rolle – denn sonst wäre er nicht seit 17 Jahren im Amt des Parlamentspräsidenten.

Minister für religiöse Angelegenheiten

Wir hatten auch ein Treffen mit dem Minister für religiöse Angelegenheiten. Dieser schilderte uns, welche starke Kontrolle sein Ministerium ausübt, das für die Genehmigung und fallweise auch direkt für die Errichtung von Moscheen zuständig ist und alle Imame hinsichtlich deren Meinungsäußerungen kontrolliert. Ich gehe allerdings davon aus, dass sich die Realität anders darstellt. Es wird aus meiner Sicht kaum möglich sein, die ungeheure Anzahl der errichteten Moscheen und ihre Immame im heutigen Ägypten tatsächlich zu kontrollieren.
Deshalb glaube ich eher, dass das Gültigkeit hat, was Dr. Refaat El-Said von der laizistisch-republikanischen Partei gemeint hat. Nach seiner Einschätzung bildet zumindest ein Teil dieser Moscheen jenes Netz, das auch von den muslimischen Gruppierungen benützt wird, um ihre Ideologien zu verbreiten – durch die Prediger selbst, aber auch durch aktive Gemeindemitglieder. Das Argument, dass diese Gruppierungen keine eigenen Moscheen benötigen, ist in einem gewissen Ausmaß zweifellos berechtigt.

Großscheich Said Tatavi

Damit komme ich nahtlos zu den beiden interessantesten Gesprächen, die wir heute geführt haben: jenes mit dem Großscheich der El-Azhar Universität, Said Tatavi sowie mit den muslimischen Vertretern im ägyptischen Parlament, die zwar offiziell auf unabhängigen Listen kandidiert haben, aber de facto die Muslim-Brüder vertreten.
Großscheich Tatavi ist – wenn es so eine Funktion gibt – der höchste Würdenträger und die hochrangigste Autorität in der islamischen, jedenfalls sunnitischen Welt. Unser Treffen mit ihm fand in der Universität El-Azhar statt, wo sein großer und äußerst repräsentativer Amtssitz liegt. Unser Gespräch verlief sehr angenehm und der Großscheich, der, wie schon erwähnt, die höchste intellektuelle Autorität im Islam besitzt, präsentierte sich herzlich und warm. Seine Rechtsprüche hinsichtlich des Terrorismus und anderer genießen in der islamischen Welt höchste Anerkennung, wenngleich sich nicht jeder auch daran hält. Dennoch: Tatavi hat in der Vergangenheit gegen jeglichen Terrorismus und gegen Selbstmordattentäter klar Stellung bezogen, ohne dabei die westliche Politik im Nahen Osten zu rechtfertigen. Diese ist auch nicht zu rechtfertigen und eine andere Haltung hätte ihm lediglich Schwierigkeiten und mangelnde Autorität im eigenen arabischen Raum beschert.

Trennung von Staat und Religion

Meine Frage hinsichtlich der historischen Interpretation des Koran, insbesondere angesichts verschiedener Meinungen, die den Koran stärker aus der Region und der Geschichte heraus interpretieren möchten, beantwortete er mit Hinweis auf andere Gelehrte, die sich intensiver mit diesem Thema auseinandergesetzt haben und gab mir auch die entsprechenden Kontaktadressen. Seine eigene Antwort wurde leider durch ein Telefonat unterbrochen. Insgesamt zeigte er sich in diesem Punkt aber eher zurückhaltend.
Anders war es bei der Frage nach der Möglichkeit, in Ägypten islamische Parteien zu gründen. Hier brachte Tatavi eine starke und eindeutige Ablehnung zum Ausdruck. Aus seiner Sicht handelt es sich beim Islam um eine Religion und damit um die Beziehung zwischen Mensch und Gott. Dabei müssten zweifellos moralische Regeln eingehalten werden, die allerdings absolut nichts mit Politik zu tun haben. Über Politik, so Tatavi, könne man streiten. Es gäbe Angebote, Vorschläge und Ideen, die man akzeptieren oder ablehnen könne. Der Koran bzw. Gottesgebote könnten aber keinesfalls Gegenstand einer politischen Auseinandersetzung sein. Auch wenn die Trennung von Staat und Religion in Ägypten zweifellos eine andere ist und nicht so deutlich vollzogen wie in Österreich wird: Tatavi hat im Prinzip für ein doch eindeutig islamisch geprägtes Land eine gute und richtige Haltung glaubwürdig vertreten.

Die moslemische Bruderschaft

Anders, wenn auch vorsichtig, argumentieren die Vertreter der moslemischen Bruderschaft, die wir heute Abend getroffen haben. Nicht alle Besucher und Vertreter des Westens wollen mit den Moslembrüdern sprechen, weil sie befürchten, es könnte als Anerkennung für deren Aktivitäten ausgelegt werden. Wir hingegen haben uns entschieden, mit ihnen zu sprechen und ich glaube, dass dieser Dialog eine wichtige Rolle spielt. Uns ging es nicht darum, den Moslembrüdern eine Anerkennung zu geben. Diese Anerkennung erhalten sie von Ägypten bzw. durch die ägyptische Bevölkerung bei den Wahlen. Wir wollten vielmehr ausloten, wie ihre Einstellungen und Gefühle gelagert sind und uns dadurch auf den notwendigen Dialog mit der islamischen Welt selbst vorbereiten.
Bezeichnend war, dass bei den Moslembrüdern ausschließlich Männer in Erscheinung getreten sind. Sie versicherten uns zwar, dass bei ihnen auch „Schwestern“ kandidiert haben, diese aber nicht zum Zug gekommen sind. Sie meinten, dass dies vor allem durch die offiziellen Regierungsstellen verhindert worden sei. Auf unsere Frage hinsichtlich der Trennung von Islam als Religion und Staat antworteten sie, dass eine klare Trennung nicht möglich sei. Es gehe aus ihrer Sicht aber nicht um die Verwirklichung eines Gottesstaats, eine Theokratie. Im Unterschied zu den Schiiten gehen sie davon aus, dass der Wille der Bevölkerung zählt und nicht der einer theologischen Oberschicht von Muftis und Mullahs.

Unterschiedliche politische Positionen

Die Moslembrüder treten für den Respekt vor den im Lande lebenden Christen, insbesondere der Kopten ein und sehen keine Probleme, dass diese ihre Religion entsprechend ausüben können. In vielen Fragen waren sie sich allerdings nicht ganz einig. Es bestätigte sich das, was wir später am Abend von einem Vertreter der Zivilgesellschaft gehört haben: Es gibt wenige klare politische Positionen. Sie wenden sich einhellig gegen die Regierung, gegen Korruption und gegen Folter. Wenn es allerdings um verschiedene politische Fragen geht, können die Meinungen sehr auseinander gehen.
Uns wurden beispielsweise etliche Schriften, Artikel und Beiträge gezeigt, die im Zusammenhang mit den Wahlen herausgegeben worden sind. Vieles davon kann man durchaus unterschreiben. Es gibt zwar auch Hinweise auf Zitate aus dem Koran, die quasi das ideologische Fundament bilden. Wenn man allerdings die einzelnen Forderungen im Detail ansieht, dann findet man nur weniges, was einen aufhorchen lässt. Trotzdem: In einer der Broschüren vom Vorsitzenden der Bruderschaft ist zu lesen, dass alles, was dem Islam widerspricht, aus den Massenmedien verbannt werden muss – und das ist doch eine recht problematische Aussage.

Eingeschränkte Gleichberechtigung

Die Bruderschaft tritt unter anderem auch dafür ein, dass vermehrt Islamschulen und Schulen, in denen islamisches Recht vorgetragen wird, gegründet werden. Hinsichtlich der Rolle der Frauen spricht sie sich im Wesentlichen für die Gleichberechtigung, insbesondere für die politische Gleichberechtigung, aus. Frauen sollen sämtliche öffentlichen Positionen ausüben können, außer der Position des Großimams und des Staatspräsidenten. Diese Ausnahmeregelung ist mit dem Zusatz unter den `present conditions´, also den momentanen Konditionen, versehen – ohne nähere Erläuterung.
Ein weiterer seltsamer Passus beinhaltet die folgende Aussage: Das Gebiet der männlichen Oberhoheit ist für die Frauen begrenzt durch die eheliche Partnerschaft und resultiert aus der Liebe, der Barmherzigkeit und auf Konsultation als Gegenleistung für die Verantwortung, die der Mann übernimmt. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es in der Bruderschaft deutliche Einschränkungen für die Gleichberechtigung gibt.

Klare politische Reformen sind notwendig

Wie geht man damit um? Schwierig zu sagen. Einerseits besteht zu Recht die Regelung, dass es keine religionsgeführten Parteien geben soll. In diesem Punkt bin ich ganz beim Großscheich Said Tatavi. Auf der anderen Seite wird man nicht umhin können, das politische System so zu ändern, dass Menschen mit unterschiedlicher Vertretung, was den Islam betrifft, kandidieren dürfen. Wichtig ist aber vor allem, dass es zu einer klaren politischen Reform kommt.
Je länger ein repressives Regime herrscht, das im Falle des Falles auch zur Folter greift, umso schwieriger ist es, eine Reform durchzuführen, deren Endergebnis vielleicht sogar zu einem verstärkten Islamismus führt. Viele Gelegenheiten sind bereits versäumt worden. Hätte Mubarak relativ rasch nach der Übernahme von Sadat ein vernünftiges Reformprogramm eingeleitet und hätte er den Islamisten bei den sozialen Fragen, der Meinungsfreiheit oder der Behandlung in den Gefängnissen den Boden entzogen, dann würden wir heute zweifellos eine weitaus bessere Basis vorfinden.

Viele Faktoren

Trotzdem möchte ich an dieser Stelle keine abstrakten Empfehlungen abgeben. Mir scheint es jedenfalls wichtig zu sein, dass der Westen und in erster Linie jene, die im Westen eine klare laizistische Position vertreten, den Dialog führen und darauf aufmerksam machen, welche Freiheiten notwendig sind. Zugleich gilt es genügend Vorkehrungen dagegen zu treffen, dass die Bedingungen für das Aufgehen der Saat islamistischer Fundamentalisten nicht gestärkt, sondern geschwächt werden.
Und das geht eben durch den Druck auf politische Reformen in den einzelnen Ländern, durch eine klare Strategie zur Lösung des Palästina-Problems und die Anerkennung von zwei Staaten, wie es die UN-Resolution vorsieht. Wir brauchen zudem ein stärkeres Engagement im gesamten Raum und eine vernünftige Position im Dialog mit dem Iran. Es sind also viele Faktoren, die erfüllt werden müssen, um eine Position einnehmen zu können, die die Islamisten nicht unterdrückt, ihnen aber auch nicht den Boden aufbereitet, sondern sie in ein demokratisches Rechts- und Staatssystem einbindet.

Demokratisierung im arabischen Raum

Der heutige Tag ging mit einem Treffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft zu Ende. In unseren Gesprächen zeichnete sich dabei eine ähnliche Position ab. Auch sie sprachen sich für den Dialog mit den Muslim-Brüdern und für eine Demokratisierung der Politik im arabischen Raum aus. Diese darf nicht mit Gewalt und nicht von außen erfolgen, sondern muss mit Unterstützung jener Kräfte erfolgen, die eine offene Demokratie befürworten.

Kairo, 20.12.2006