Ein Schritt auf dem Weg

Europa hat gezeigt, dass es sich trotz Schwierigkeiten, trotz einer erweiterten Union und trotz versuchter Blockade eines nicht gerade kleinen Landes wie Polen, einigen konnte. Das war ein wichtiger psychologischer Aspekt.
Diese Woche haben uns in erster Linie die Diskussionen über die Ergebnisse des Brüsseler Gipfels in ihren Bann gezogen.

Der Reformvertrag

In Brüssel wurde ein sogenannter „Reformvertrag“ ausverhandelt, der jetzt im Detail ausgearbeitet und in der Folge ratifiziert werden muss. Das ist ohne Zweifel ein Fortschritt gegenüber dem derzeitigen Zustand bzw. dem Vertrag von Nizza. Einige Punkte freuen uns gar nicht, sie sind weitaus schlechter geregelt als im Verfassungsvertrag – der allerdings nie Realität geworden ist, nachdem zwei Mitgliedsstaaten ihn abgelehnt haben.
Insgesamt war dieses Ergebnis nicht zuletzt ein großer Erfolg für Angela Merkel. Die deutsche Bundeskanzlerin, die ich inzwischen einige Male im kleineren Kreis getroffen und im Parlament agieren gesehen habe, ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Sie strahlt Ruhe und Entschlossenheit aus und verfolgt ihre Ziele mit Klarheit. Das hat wesentlich zu diesem Weg zu einem Reformvertrag beigetragen. Es waren aber auch andere beteiligt – für die französischen Medien waren dies natürlich fast ausschließlich Frankreich und Sarkozy. Mich freut besonders, dass auch der österreichische Bundeskanzler, zumindest auf sozialdemokratischer Seite, sehr positiv gewirkt hat. Trotzdem: Der Hauptverdienst gilt der Ratsvorsitzenden.

Solidarität zeigen

Martin Schulz konnte bewerkstelligen, dass Angela Merkel uns in der Fraktion besucht hat. Wir haben sie dort mit großer Sympathie und starkem Applaus empfangen. Während der kurzen Diskussion, die wir mit Merkel geführt haben, habe ich sie gebeten mitzuhelfen, dass die Solidarität mit jenen, die für den Reformvertrag eingetreten sind und sich letztendlich in wesentlichen Punkten gegenüber der polnischen Regierung durchsetzen konnten, aufrechterhalten bleibt. Es war für Merkel persönlich eine erfreuliche und angenehme Haltung, die alle Länder bis auf eine unrühmliche Ausnahme an den Tag gelegt haben.
Ich bat Merkel außerdem mitzuhelfen, während der portugiesischen Präsidentschaft zu entsprechenden Formulierungen zu kommen. Es ist nämlich davon auszugehen, dass die polnische Regierung erneut versuchen wird, einige Punkte zu ändern und ihre Verluste im Formulierungsprozess im Rahmen der Internationalen Regierungskonferenz zurückzugewinnen.

Der Wermutstropfen

Angela Merkel berichtete schließlich auch dem Europäischen Parlament insgesamt und stieß auch hier auf breite Unterstützung. Auch Martin Schulz hielt eine Rede, die bei den KollegInnen der anderen Parteien inklusive der Konservativen mit großem Applaus bedacht worden ist. Er wies darauf hin, dass es nahezu grotesk ist, heute – so viele Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg – die Kriegstoten mit Stimmgewichten im Europäischen Rat aufwiegen zu wollen, wie das die polnische Regierung ganz offen getan hat.
Genau das ist auch der Wermutstropfen bei der ganzen Angelegenheit. Die polnische Regierung hätte den Vertrag fast blockiert, wäre da nicht Merkels Drohung gewesen, die Regierungskonferenz ohne Zustimmung der polnischen Regierung einzuberufen. Das Verhalten der Polen war dabei absolut unverständlich. Sie haben nicht nur die nationalen Interessen mit auf den Tisch gebracht – das ist durchaus nachvollziehbar -, sondern haben dies in einer Art und Weise getan, die die anderen beleidigt und zugleich gezeigt hat, dass die Folgen des Krieges bei weitem nicht überwunden worden sind. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Der Krieg, der insbesondere auch für die Polen schrecklich und leidvoll gewesen ist, wird auch heute, nach mehr als 60 Jahren, immer wieder als Argument gegen Deutschland ins Spiel gebracht. Es wird nicht versucht, die – durchaus berechtigte – Angst, zwischen Russland und Deutschland zerrieben zu werden oder keine adäquate Position zu erringen, durch praktische Politik zu überwinden. Stattdessen wird diese Angst durch immer wieder neu hervorgebrachte Ressentiments geschürt.

Insgesamt positiv

Dennoch: Es bleibt ein positives Ergebnis, insbesondere auch hinsichtlich der institutionellen Fragen, also der Stärkung der Europäischen Union. Das umfasst natürlich auch die Stärkung des Europäischen Parlaments sowie die Stärkung der außenpolitischen Struktur durch die Schaffung eines gemeinsamen Außenministers, der Rat und Kommission gemeinsam vertritt und möglicherweise Hoher Beauftragter heißen wird. Wie schon erwähnt gibt es auch Rückschritte. Das betrifft die Symbole der Europäischen Union – die Hymne und die Fahne wurden aus der Verfassung herausgenommen. Das ändert aber hoffentlich nichts an deren Verwendung. Außerdem wird nicht mehr einheitlich von Gesetzen gesprochen, sondern erneut von Direktiven und anderen Arten von Regelungen.
Es wurde also einiges unternommen, um das, was an eine Verfassung erinnert hat – auch wenn es im engeren Sinn keine Verfassung gewesen ist – zu streichen. Das sollte es ermöglichen, dass in Großbritannien keine Volksabstimmung notwendig ist, sondern die Ratifizierung im Parlament erfolgt. Das gleiche gilt für die Niederlande. Leider gibt es hier, gerade auch von sozialdemokratischer Seite, Einwände – nicht aus der Sache heraus, sondern weil man Angst hat, dass die linker stehenden Sozialsten die Situation ausnützen werden. Dasselbe gilt für viele Sozialdemokraten in Frankreich. Leider denkt man auf nationaler Ebene oft nicht darüber nach, wie man bessere Voraussetzungen für Europa schaffen kann. Man konzentriert sich vielmehr auf die Stimmenmaximierung bei Wahlen. Und genau das ist besonders bedauerlich.

Ein Schritt nach vorne

Der Verfassung werden übrigens immer wieder Dinge zugeschrieben, die gar nicht mir ihr in Zusammenhang stehen. So war es beispielsweise auch bei einer Diskussion der Fraktionsvorsitzenden des Europäischen Parlaments mit Hunderten Jugendlichen aus ganz Europa, bei der ich Martin Schulz vertreten habe. Francis Wurtz, der Vorsitzende der Linken und Kommunisten im Europaparlament, den ich durchaus schätze, brachte bei dieser Gelegenheit einmal mehr den Neoliberalismus der Europäischen Union mit der Verfassung in Verbindung.
Eine Verfassung gibt im Wesentlichen Regeln und Strukturen vor, nach denen zu entscheiden ist. Man kann mit ein und derselben Verfassung eine mehr oder eine weniger neoliberale Politik betreiben. Dass der Sozialismus heute nicht auf der politischen Tagesordnung steht, ist offensichtlich. Aber wenn man meint, dass Europa ein gewichtiges Wort in der Welt mitzureden hat, dann ist die Verfassung ein Schritt nach vorne. Sie ersetzt eine gute Politik nicht, aber sie verhindert sie auch nicht – vor allem in jenen Bereichen, die für uns eine zentrale Rolle spielen.

Der Markt ist ein Instrument

Es war symbolisch durchaus wertvoll, dass der französische Präsident den freien und ungehinderten Markt als Zielsetzung aus dem Reformvertrag herausreklamiert hat. Trotzdem: Wir leben in einer Marktwirtschaft, und das macht auch Sinn. Und der Markt ist ein Instrument, das Anwendung gelangt. Als Angela Merkel bei ihrem Referat im Parlament nach einem entsprechenden Begriff gesucht hat, habe ich dazwischen gerufen: „Der Markt ist ein Instrument“. Sie hat das bestätigt und auch verteidigt. Das bedeutet nicht, dass wir nicht die Illusion haben sollen, dass nicht nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen gehandelt wird – aber es ist eben nicht das Ziel.
Für uns ist außerdem wichtig, dass erneut betont wurde, dass die öffentlichen Dienste, wie sie auch von den einzelnen Nationalstaaten definiert werden, ein wichtiges Merkmal des europäischen Sozialmodells sind.

Wachsam bleiben

Aus meiner Sicht sind wir insgesamt mit dem Gesamtpaket des Reformvertrages einen Schritt nach vorne gegangen. Europa hat gezeigt, dass es sich trotz Schwierigkeiten, trotz einer erweiterten Union und trotz versuchter Blockade eines nicht gerade kleinen Landes wie Polen, einigen konnte. Das war ein wichtiger psychologischer Aspekt. Trotzdem bleibt dieser Schritt eine Etappe auf dem Weg. Wir können nur hoffen, dass auch die anderen Etappen entsprechend erfolgreich abgeschlossen werden. Wir müssen wachsam bleiben, insbesondere auch im Europäischen Parlament, dass vom bestehenden Konsens nichts zurückgenommen wird. Polen hat die Ursachen seiner Einwände nicht aufgegeben.
Die Obstruktionspolitik, die Animositäten, die man gegenüber Deutschland und Russland hegt, bleiben bestehen. Wir müssen Polen und der polnischen Regierung – und nicht dem polnischen Volk, das sehr pro-europäisch eingestellt ist – klar machen, dass im Falle einer tatsächlichen Obstruktionspolitik kein Interesse besteht, Polen zu berücksichtigen. Nach dem Prinzip der EU muss in grundsätzlichen Fragen Einigkeit und damit Einstimmigkeit herrschen. Das macht die Sache nicht einfacher. Wir müssen also Wege suchen, um mit Polen zu kooperieren, wenn es kooperieren will oder Lösungen ohne Polen finden, wenn es lieber Obstruktions- statt Kooperationspolitik betreibt.

Brüssel, 28.6.2007