Eine Gewissensfrage

Bei der Tagung unserer Fraktion in Prag diskutierten wir unter anderem heftig über die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen.
Im Anschluss an die in Bratislava stattfindende Vorstandssitzung fuhren wir nach Prag zu unserer diesjährigen Fraktionstagung. Hier versicherten die tschechischen Regierungsvertreter, dass der Steuersatz nicht gesenkt wurde und man auch nicht vorhat, dies zu tun. Trotzdem ist es gelungen, eine weitaus bessere Entwicklung als die Slowakei einzuschlagen – auch hinsichtlich der Attraktivität für Investoren. Diese Aussage machte der tschechische Finanzminister, der zugleich Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei ist.

Mitteleuropäische Einigung

Bei unseren Treffen in Bratislava wie auch hier in Prag kamen sowohl die wirtschaftlichen als vor allem auch die sozialen Probleme gemeinsam zum Ausdruck. Wir haben mit unseren Schwesterparteien ganz bewusst den Schwerpunkt in diesen beiden Bereichen gewählt. Und zwar nicht nur in Hinblick auf die bevorstehenden Wahlauseinandersetzungen, die in der Slowakei und in Tschechien noch heuer stattfinden werden, sondern auch, um einem sozialen Europa von allen Seiten eine stärkere Unterstützung zu signalisieren.
Wie schon in der Slowakei spielte auch in Prag unsere gemeinsame Vergangenheit eine Rolle. Der tschechische Premierminister hatte unseren Fraktionsvorsitzenden Martin Schulz und mich zu einem Mittagessen in seiner Residenz eingeladen. Aufgrund der zahlreichen Überschwemmungen im Land musste er selbst sich allerdings kurzfristig entschuldigen, um die betroffenen Gebiete zu besuchen. So empfing uns sein Stellvertreter. Dieser begann das Gespräch mit der Mitteilung, dass er soeben den slowakischen Botschafter getroffen habe und sie sich beide die Frage gestellt hätten, warum ihre Vorfahren eigentlich die österreichisch-ungarische Monarchie zerstört haben. Die Antwort ist relativ einfach: Dieses Projekt war der Versuch einer mitteleuropäischen Einigung, die viel zu früh stattgefunden hat.

Beeindruckendes Symbol

Ich selbst wurde nur wenige Kilometer von Bratislava entfernt geboren, und die slowakische Hauptstadt ist in 45 Minuten mit dem Auto von Wien aus zu erreichen. Ich selbst war vorgestern mit dem Zug von Wien nach Bratislava gefahren, ebenso wie viele junge SchülerInnen. Als ich sie beim Aussteigen am Bahnhof in Bratislava fragte, wo sie in die Schule gehen, antworteten sie mir: im 3., im 10. oder in einem anderen Wiener Bezirk, und zwar in jeweils verschiedene Schulen, zu denen sie täglich von Bratislava aus mit dem Zug pendeln.
Das ist für mich ein beeindruckendes Symbol für die Region insgesamt, genauso wie für das langsame Zusammenwachsen dieser Region – aufgrund der gemeinsamen Geschichte, aber auch aufgrund der Überzeugung einer gemeinsamen Zukunft. Dieses Zusammenwachsen ist nicht leicht und kann nur stufenweise erfolgen. Aber es ermöglicht dieser Region eine ungeheure Chance.

Freizügigkeit

Bei unserer Fraktionstagung in Prag wurde heftig über die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen diskutiert. Es gibt bekanntlich die Vereinbarung, dass die verschiedenen Länder die Freizügigkeit in mehreren Etappen bis zu maximal sieben Jahre aufschieben können, bevor es zu einer gänzlichen Öffnung des Arbeitsmarktes kommt. Ich verstehe, dass unsere sozialdemokratischen FreundInnen in den betroffenen Ländern Probleme mit dieser Regelung haben. Sie haben deshalb aufgrund eines Berichtes den Antrag gestellt, die Freizügigkeit aufzuheben.
Ich würde mich dem gerne anschließen, aber das wäre unehrlich und unfair. Ich habe das auch deutlich zum Ausdruck gebracht, gerade weil ich ein Anhänger und Unterstützer der Erweiterung und des Zusammenwachsens dieser Region bin. Zum ersten haben wir den Menschen in unseren eigenen Ländern diese Übergangsregelung versprochen und so ihre Befürchtungen, dass unsere Arbeitsmärkte durch die Mitgliedschaft unserer Nachbarländer überschwemmt würden, entkräftet.

Höhere Betroffenheit

Zum zweiten finden sich trotz der Beschränkungen und der Inanspruchnahme der Übergangsfristen durch Österreich in unserem Land anteilsmäßig weitaus mehr ArbeitnehmerInnen aus unseren Nachbarländern als in allen EU-Staaten, mit Ausnahme Irlands – und zwar in Relation zur Größe des Arbeitsmarktes. Andere Länder haben es leichter, die Öffnung ihrer Arbeitsmärkte zieht kaum Konsequenzen nach sich.
In Österreich hingegen gibt es schon jetzt – und zwar auf dem legalen Sektor – viele ArbeitnehmerInnen aus der Nachbarregion, beispielsweise in Restaurants. Vom illegalen Sektor möchte ich in diesem Zusammenhang gar nicht sprechen. Gerade viele jener ÖsterreicherInnen, die sich negativ über die Erweiterung und die Überschwemmung des Arbeitsmarktes äußern, beschäftigen ihrerseits illegal ArbeitnehmerInnen aus den Nachbarnländern.

Eigene Interessen vertreten

Schließlich spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass Veränderungen bzw. ein vorzeitiges Aufgeben der Übergangsfristen großen Unmut über die Europäische Union und ihre wirtschaftliche Entwicklung mit sich bringen würde. In Österreich, aber auch in unseren Nachbarländern steigt die Arbeitslosigkeit ohnehin. Daher argumentierte sowohl ich als auch andere KollegInnen der österreichischen Delegation – etwa Maria Berger oder Harald Ettl -, dass wir eine vorzeitige Aufhebung der Übergangsfristen von heute auf morgen nicht mittragen können.
Es wird sich zeigen, wie die diesbezüglichen Formulierungen, die bei der Plenarsitzung in der kommenden Woche in Straßburg gefunden werden sollen, aussehen werden. Es geht jedenfalls nicht darum, unseren KollegInnen in unseren Nachbarländern die Arbeit und das Leben schwer zu machen. Für uns gilt es, die Interessen unserer eigenen ArbeitnehmerInnen zu vertreten und ihre Ängste ernst nehmen. Dazu müssen wir uns bekennen und die gemachten Zusagen auch einhalten.

Glaubwürdig bleiben

Man darf auch nicht vergessen, dass wir derzeit mit Rumänien und Bulgarien verhandeln und es auch für diese Länder Übergangsregelungen geben wird. Würden wir die gerade erst vereinbarten Übergangsregelungen mit den „alten“, 2004 beigetretenen Ländern aufkündigen und mit Rumänien und Bulgarien neue Fristen vereinbaren, würde uns niemand mehr ernst nehmen. Eine solche Vorgangsweise wäre der Glaubwürdigkeit unserer Politik äußerst abträglich sein.
Wir werden deshalb unseren Standpunkt konsequent verfolgen – auch wenn ich überzeugt bin, dass es trotz einer Aufhebung der Übergangsregeln zu keinem großen Ansturm kommen würde. Gerade in jenen Bezirken und Regionen, die in unmittelbarer Nähe zu Österreich liegen, ist die Beschäftigungslage ohnehin sehr gut. Und in den weiter entfernt liegenden Regionen mit schlechter Beschäftigungslage, vor allem der Ostslowakei und Ostpolens, gibt es eine äußerst geringe Mobilität.

Drittstaaten

Noch ein weiteres Argument sollte berücksichtigt werden. Es gibt in Österreich relativ viele ArbeitnehmerInnen aus Drittstaaten – insbesondere aus dem Balkanbereich und der Türkei. Wenn tatsächlich eine Substituierung bzw. ein Hinausdrängen aus bestehenden Arbeitsplätzen stattfindet, dann sind vor allem diese Menschen davon betroffen. Betroffen von dem Interesse der Unternehmer, zwar nicht bessere Löhne und Gehälter zu bezahlen, aber sehr wohl besser qualifizierte Arbeitskräfte zu bekommen. Und diese besser qualifizierten Arbeitskräfte kommen oft aus der Slowakei oder der Tschechischen Republik.
Sogar der tschechische Premierminister, der trotz der Hochwasserkatastrophe kurz an unserer Fraktionssitzung teilnahm, meinte, dass eine allzu rasche und kurzfristige Aufhebung der Übergangsfristen problematisch sein könnte, da jene, die in Tschechien arbeitslos seien, die weniger qualifizierten seien. Sein Wahlkreis beispielsweise sei durch eine hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet, diese betreffe aber in erster Linie unqualifizierte, es sei kein einziger Akademiker darunter und nur eine Mittelschulabsolventin.

Österreichische Gegenstrategie

Auch wenn es bei diesen Arbeitskräften keine hohe Mobilität besteht, so kann es doch zu einem Druck kommen, der durch einen entsprechenden gleitenden Übergang verhindert wird. Es gilt abzuwarten, dass es auf dem österreichischen Arbeitsmarkt zumindest zu einer relativen Entspannung kommt – was hoffentlich nach den Wahlen im Herbst der Fall sein wird.
Diese Auseinandersetzung ist jedenfalls nicht einfach. Jede/r KollegIn vertritt seinen/ihren Standpunkt, und jedes Land in Europa versucht, seine Interessen entsprechend durchzusetzen. So sehr wir ein Motor der Erweiterung – vor allem für unsere Nachbarländer – gewesen sind, so sehr sind wir auch aufgerufen, die Interessen unserer ArbeitnehmerInnen zu vertreten und für ein langsames Zusammenwachsen zu sorgen. Das würde uns wesentlich leichter fallen, würde es auch in Österreich eine stärker auf Beschäftigungspolitik orientierte Strategie geben und hätten wir selbst nicht steigende, sondern sinkende Arbeitslosenzahlen.

Prag, 29.3.2006