Europa weiter bringen

Es zeichnet sich ab, dass wir unsere ursprünglichen Erwartungen an die Europäische Verfassung, an die Neuregelung der Institutionen und der Entscheidungsfähigkeit der EU weit hinunterschrauben müssen.
In der letzten Straßburgwoche ging es von Verfassungsfragen bis zu Fragen der Roaminggebühren.

Erkenntnis für die Marktapologeten

Um mit Letzterem zu beginnen: Das Europäische Parlament hat dem Kompromiss, der in der vergangenen Woche zwischen den Verhandlern des Parlaments und des Rates ausgehandelt worden ist, zugestimmt. Das Absenken der Roaminggebühren ist dennoch aus verschiedenen Gründen umstritten. Einerseits befürworten es die Unternehmungen nicht, weil sie jeglichen Eingriff in ihre Preisgestaltung ablehnen. Andererseits lehnen sie auch die Hardliner unter den Marktapologeten ab, weil sie andernfalls einbekennen müssten, dass es sich in dieser Frage um ein Marktversagen handelt, das eben durch einen öffentlichen Eingriff behoben werden muss.
Das ist für mich eines der Grundsatzthemen in dieser Frage. Die Apologeten des Marktes, die stets auf alles eine Antwort haben – Liberalisieren, Marktöffnen, etc. – müssen einsehen, dass die Öffnung der Märkte als solches oft weder zu einer konsumentenfreundlichen Lösung noch zu jenem Preis führen, der notwendig ist, um Investitionen zu decken und zugleich einen gewissen Gewinn zu ermöglichen. Stattdessen entstehen vielmehr vermehrt Quasi-Monopole oder Oligopole, die keineswegs der Marktfunktion, wie sie in den Lehrbüchern beschrieben wird, entsprechen.

KMUs dürfen nicht unter die Räder kommen

Mir ist bewusst, dass die neue Regelung für die österreichischen Unternehmen nicht leicht werden wird. Es wäre allerdings von vornherein besser gewesen, sich stärker darauf zu konzentrieren, die nach Österreich reisenden Touristen zu umwerben und ihnen günstige Angebote zu machen, damit diese entsprechend mehr telefonieren. Wenn die KonsumentInnen im Endeffekt aufgrund der niedrigen Preise mehr mit dem Handy telefonieren, etwa wenn sie auf Urlaub sind, dann haben sie den Vorteil, dass sie um die gleiche Gesamtsumme mehr telefonieren können. Und die Unternehmen haben den Vorteil, dass sie im Endeffekt ähnlich hohe Einnahmen erzielen, weil zwar pro Minute des Telefonats weniger anfällt, aber mehr Minuten telefoniert werden.
Natürlich ist in diesem Kontext auch immer zu abzuwägen, ob die kleinen Unternehmen leiden und ob der Effekt der Liberalisierung bzw. der Marktöffnung auf alle Unternehmungen gleich verteilt ist. Grundsätzlich wird es in der Praxis wohl eher so sein, dass kleinere Unternehmen kleiner Länder durch den gemeinsamen Markt eher stärker negativ betroffen sind und eine gewisse Tendenz besteht, dass sich die großen Unternehmen durchsetzen. Diese Überlegung betrifft zweifellos nicht nur die Post, die Telekomunternehmen und die Elektrizitätsunternehmen. Man müsste diesem Aspekt wesentlich stärker im Detail nachgehen, um entsprechende Korrekturen und Schutzmechanismen insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen einführen zu können. Denn es macht wenig Sinn, auf der einen Seite permanent Programme für die Klein- und Mittelbetriebe zu entwerfen, aber auf der anderen Seite durch Marktöffnung und Liberalisierungen zu erreichen, dass gerade diese unter die Räder kommen.

Verfassung oder Vertrag?

Ein anderes Thema, das uns immer wieder und gerade in den letzten Wochen beschäftigt hat und uns auch in nächster Zukunft beschäftigen wird, ist die Verfassung. Zwei Ministerpräsidenten haben uns in Straßburg besucht, Romano Prodi aus Italien und Peter Balkenende aus den Niederlanden. Sie haben allerdings beide ein sehr unterschiedliches Referat im Rahmen der Plenardebatten gehalten. Romano Prodi hat äußerst pointiert eine relativ hohe Latte für die Einigung des Verfassunsprozesses skizziert. Balkenende argumentierte dagegen zurückhaltender und pragmatischer, gab aber letztendlich ebenfalls ein positives Signal.
Romano Prodi vertritt ein Land, das sehr stark europäisch orientiert ist und das die Verfassung angenommen hat. Und er selbst ist als überzeugter Europäer unmissverständlich ein Verfassungsbefürworter. Peter Balkenende stammt hingegen aus einem Land, das die Verfassung in einem Referendum abgelehnt hat. Er möchte dieses Risiko kein zweites Mal eingehen und hat daher für einen schwächeren Vertrag plädiert, der keinem Referendum unterzogen, sondern vom Parlament ratifiziert werden müsste. Ein solcher Vertrag sollte demnach gar nicht als Verfassung bezeichnet werden und wäre auch inhaltlich wesentlich schwächer als der ursprüngliche Verfassungsentwurf – den allerdings alle Regierungschefs, auch Balkenende, unterzeichnet haben.

Weit unter den Erwartungen

Parallel dazu fand in Brüssel ein Gespräch zwischen dem neuen französischen Präsidenten Sarkozy und Kommissionspräsident Barroso statt. Die Signale, die dabei gesetzt wurden, ähneln jenen von Balkenende: Ein in Umfang und Inhalt reduzierter Vertrag, gepaart mit der Bereitschaft, dass es zu einem Verfassungsvertrag bzw. einem neuen Vertrag kommt. Auch Sarkozy möchte ein Referendum vermeiden.
Das mag auf der einen Seite pragmatisch richtig sein. Es hat allerdings auf der anderen Seite zur Konsequenz, dass wir unsere ursprünglichen Erwartungen an die Verfassung, an die Neuregelung der Institutionen und der Entscheidungsfähigkeit der EU weit hinunterschrauben müssen. In diesem Zusammenhang gebe ich Romano Prodi Recht, der festgestellt hat, dass man gar nicht mehr zu einem derartigen Vertrag stehen kann, wenn unterm Strich nichts deutlich Positives herauskommt.

Besorgnis erregende Entwicklung

Die kommenden Wochen werden zeigen, wie groß die Bereitschaft ist, zu einem Ergebnis zu kommen. Angela Merkel möchte bei der Ratssitzung Ende Juni ein Prozedere festlegen, aber auch jene inhaltlichen Punkte, auf die man sich einigen kann. Der größte Widerstand kommt zweifellos einerseits aus Großbritannien, andererseits aus Polen und der Tschechischen Republik. Dort sind bekanntlich mit Klaus und den Katczynski-Brüdern Persönlichkeiten am Werk, die mit Europa wenig am Hut haben – nicht nur, was die Verfassungsfrage betrifft. Diese Entwicklung, vor allem in Polen, bereitet uns große Sorgen.
Für alle, die wie ich die Erweiterung sehr favorisiert haben, sind die Entwicklungen in Polen, aber auch in Rumänien und in Bulgarien keineswegs angenehm. Zwar haben wir eine Berlusconi-Regierung in Italien erlebt, und wir haben Haider und Le Pen sowie etliche andere problematische Figuren in Europa erlebt, die dem Fortschritt nicht dienen, sondern ihn blockieren. Allerdings ist der Grad derartiger Blockaden in einigen der neuen Länder größer, weil dort eine gewisse Reife der politischen Entwicklung zum Zeitpunkt des Beitritts noch nicht erreicht gewesen ist. Manche dieser schwierigen Umgestaltungsprozesse finden erst jetzt statt. Ich hoffe trotzdem, dass wir letztendlich in die richtige Richtung gehen. Andernfalls würde ein grober Schaden für Europa entstehen, und das wäre gerade für die Stärkung der EU nicht von Vorteil.

Straßburg, 24.5.2007