Europäische Mindestlohnlohnpolitik

Eine Mindestlohnpolitik bietet zumindest eine Möglichkeit, das soziale Europa vor dem Hintergrund der Liberalisierung und der prekären Arbeitsverhältnisse etwas stärker in den Vordergrund zu rücken.
Gestern Nachmittag bin ich nach dem Ende der Parlamentssitzung gemeinsam mit Martin Schulz nach Frankfurt gefahren, um von dort nach Berlin zu fliegen. In Berlin tagt die Konferenz der Fraktionsvorsitzenden aus den verschiedenen europäischen Mitgliedsländern, zusammen mit den Vorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament.

Grundsatzbekenntnis der Kommission

Auf der Tagesordnung stand heute eine Debatte über die sozialpolitische Dimension der EU. Ich hatte dieses Thema bereits kurz in meiner Rede zum Arbeitsprogramm der Kommission am Dienstag bei der Plenarsitzung in Straßburg angeschnitten. Es ist ein schwieriger Prozess, von Allgemeinplätzen wie „Wir brauchen das soziale Europa“ oder „Die Stärkung der sozialen Dimension“ zu ganz konkreten Vorschläge zu kommen.
In jüngster Zeit hat die soziale Dimension, zumindest vom Grundsatz her, in den Vorschlägen der Kommission und auch in den Ratsbeschlüssen Eingang gefunden. So heißt es zum Beispiel in einem Dokument der Europäischen Kommission unter dem Titel „Ein Binnenmarkt für die Bürger“ vom 21. Februar dieses Jahres: „Das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Binnenmarkt als Mittel zur Verbesserung der Lebensqualität kann nur gewonnen werden, wenn sowohl die sozialen als auch die ökologischen Aspekte des Binnenmarktes anerkannt werden; beide sind eine Investition in die Zukunft.“ In einem anderen Dokument, das im gleichen Zeitraum veröffentlicht wurde, ist unter dem Titel „Die soziale Wirklichkeit in Europa. Eine Bestandsaufnahme“ nachzulesen: „Ein offenes Europa, in dem Freizügigkeit und freier Warenverkehr herrscht, hat dazu beigetragen, Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen, von denen das Wohlergehen und eine bessere Lebensqualität des Einzelnen in der Gesellschaft letztlich abhängen. Doch ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass viel Europäer bezweifeln, dass Globalisierung, Liberalisierung und das Streben nach mehr Wettbewerbsfähigkeit unter dem Strich zu ihrem Wohlergehen beitragen.“ In diesen beiden Dokumenten der Kommission ist die soziale Dimension primär als eine Dimension angesprochen, die notwendig ist, um den Markt und die wirtschaftliche Entwicklung in Zeiten der Globalisierung zu akzeptieren und zu vertreten.

Inhaltsorientierter Rat

Die Schlussfolgerungen der Ratssitzungen vom 8. März formulieren hingegen die soziale Dimension schon etwas deutlicher. So heißt es dort zum Beispiel: „Angesichts der positiven Entwicklung auf den Arbeitsmärkten der Mitgliedsstaaten hebt der Europäische Rat hervor, wie wichtig angemessene Arbeitsbedingungen und die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien sind, d.h. Arbeitnehmerrechte und Mitwirkung der Arbeitnehmer, Chancengleichheit, Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sowie eine familienfreundliche Arbeitsorganisation.“ Im nächsten Punkt (19) heißt es: „Der Europäische Rat bekräftigt, dass der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt der Unionsweit gestärkt werden muss und hebt die soziale Rolle der Sozialpartner hervor. Er unterstreicht die Bedeutung der sozialen Dimension der EU. In diesem Zusammenhang verweist er auf die Sozialvorschriften des Vertrags und unterstreicht, insbesondere die darin festgelegten Ziele die Beschäftigung zu fördern und die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen. Er weist darauf hin, dass die gemeinsamen sozialen Ziele der Mitgliedstaaten im Rahmen der Lissabon-Agenda stärker berücksichtigt werden sollten, damit die Bürger der Union die europäische Integration auch weiterhin unterstützen.“ Auch hier wird zwar die notwendige Unterstützung eingefordert – es handelt sich aber eher um eine Anmerkung. Im Mittelpunkt stehen die Inhalte.

Unlauteren Wettbewerb verhindern

Wir haben in Berlin vor allem darüber diskutiert, wie wir diese grundsätzlichen Überlegungen konkret gestalten können. Ich habe dabei auf das Beispiel der Postliberalisierung hingewiesen. Es wird immer wieder kritisiert, dass die Postliberalisierung besonders deshalb problematisch ist, weil die bestehenden Postdienste in vielen Fällen durch Unternehmungen unterlaufen werden, die für europäische Verhältnisse nahezu Hungerlöhne bezahlen. Nun, die Liberalisierung bringt ja in der Tat nicht mehr Wettbewerb durch Qualität, sondern eher durch niedrige Entlohnung und unzureichende soziale Rahmenbedingungen – und das ist ganz bestimmt weder im Sinne der Sozialdemokratie noch der ArbeitnehmerInnen.
Ich habe vor diesem Hintergrund in Berlin darauf hingewiesen, dass im Fall von Marktöffnungen die einzelnen Nationalstaaten entsprechend angehalten werden müssten, die Rahmenbedingungen für die ArbeitnehmerInnen so zu gestalten, dass ein unlauterer Wettbewerb nach unten unmöglich wird. Eine solche Entwicklung würde nämlich genau dem eingangs zitierten Beschluss des Europäischen Rates widersprechen.

Mindestlohn

Zweifellos gibt es unterschiedliche Interpretationen und Definitionen dazu, wie tatsächliche gute und akzeptable Arbeitsbedingungen gestaltet sein sollen und herzustellen sind. Eine entsprechende Möglichkeit wäre die Einführung des Mindestlohnes. Auch darüber haben wir in Berlin diskutiert. Allen voran hat sich Jean Mark Ayrou, der Vorsitzende der französischen sozialdemokratischen Fraktion in der Nationalversammlung, explizit für einen europäischen Mindestlohn ausgesprochen. Gemeint war damit zweifellos ein System europäischer Mindestlöhne. Dazu habe ich kürzlich einen interessanten Beitrag von Thorsten Schulten in der Zeitschrift Kurswechsel mit dem Titel „Plädoyer für eine europäische Mindestlohnpolitik“ gelesen.
In der Tat gibt es zwar in der Mehrheit der europäischen Länder eine Mindestlohnpolitik, in einer Minderheit der Mitgliedsstaaten gibt es sie jedoch nicht. Und gerade in diesen Ländern, zu denen auch Österreich und Deutschland zählen, finden vor allem jetzt verstärkte Diskussionen und auch entsprechende Maßnahmen in Richtung einer Mindestlohnpolitik statt. Mindestlohnpolitik ist gesetzlich geregelt. Sie kann zwar auch über Kollektivvertragslöhne hergestellt werden – wie derzeit etwa in Österreich -, dennoch sollte es einen gesetzlichen Rahmen geben.

Orientierung am Durchschnittseinkommen

Quantitativ müssen die Höhen der jeweiligen Mindestlöhne in den einzelnen Mitgliedsländern unterschiedlich sein. Trotzdem kann man argumentieren, dass der Mindestlohn einem bestimmten Prozentsatz des jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommens entsprechen soll. Thorsten Schulten schlägt in diesem Zusammenhang vor, dass dies mindestens 50% und in weiterer Folge 60% des nationalen Durchschnittseinkommens sein sollten. Ich möchte nicht beurteilen, ob dieser Betrag zu hoch oder zu niedrig ist – das ist zweifellos eine Frage der genauen Definition, entscheidend ist das Prinzip.
Von Unternehmerseite ist mit dem Argument zu rechnen, dass ein solches Vorgehen erst recht die Betriebe aus unseren Ländern vertreibt. Allerdings muss man betonen, dass Mindestlöhne hauptsächlich im Bereich persönlicher Dienstleistung bezahlt werden, wo ohnedies kaum mit einem Verdrängungseffekt zu rechnen ist. Und in anderen Unternehmungen betreffen die Mindestlöhne nur einen Teil der ArbeitnehmerInnen.

Decent work

Aus meiner Sicht ist es absolut wichtig und notwendig, Mindestlohnregelungen zu treffen, um eine Grenze zu ziehen, die die um sich greifende Armut verringert oder ganz zum Verschwinden bringt. Gerade zurzeit gibt es wieder verstärkte Armut. Und zwischen den Einkommen von Frauen und Männern ist noch immer kein Gleichgewicht hergestellt. Frauen werden nach wie vor diskriminiert. Und wenn sie für gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten, werden sie in niedriger bezahlte Positionen abgedrängt.
Eine Mindestlohnpolitik löst natürlich nicht alle bestehenden sozialen Probleme. Aber sie bietet zumindest eine Möglichkeit, das soziale Europa vor dem Hintergrund der Liberalisierung und der prekären Arbeitsverhältnisse etwas stärker in den Vordergrund zu rücken. Dabei ist es absolut wichtig, den in der internationalen Debatte verwendeten Begriff „decent work“, also angemessene und akzeptable Arbeitsbedingungen, zu berücksichtigen und darauf zu achten, dass dieser in der derzeit herrschenden Euphorie über einen Aufschwung des Arbeitsmarktes und eine Verbesserung der Situation der ArbeitnehmerInnen nicht untergeht. Das Problem einer hohen Arbeitslosigkeit in Europa, die weit über dem Niveau der Sockel-Arbeitslosigkeit liegt, kann nicht einfach weggewischt werden und es müssen unzählige entsprechende Maßnahmen getroffen werden. Dabei darf allerdings nie auf die Verbesserung der Qualität der Arbeit vergessen werden.

Berlin, 16.3.2007