Fingerspitzengefühl ist gefragt

Wir müssen der Ukraine helfen, die richtigen Schritte zu gehen und dürfen sie nicht dazu zwingen, unsere eigenen Vorstellungen und Interessen umzusetzen.
Gestern Vormittag flog ich gemeinsam mit Jan Marius Wiersma und dem Vorsitzenden der parlamentarischen Delegation EU-Ukraine, Marek Siwiec sowie dem Fraktionsmitarbeiter Rob van de Water nach Kiew, die Hauptstadt der Ukraine.

Bei Parlamentspräsident Oleksandr Moroz

Wir wollten uns vor Ort ein Bild über die aktuelle Situation machen und vor allem auch mit Oleksandr Moroz, dem neuen Parlamentspräsidenten, sowie mit Vitaliy Shybko, dem Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses, sprechen. Beide gehören der sozialistischen Partei an, die nicht aus dem kommunistischen Eck kommt, denn es gibt eine eigene kommunistische Partei. Es handelt sich vielmehr um unsere Schwestern und Brüder in der Ukraine, die sich auch aktiv an der Orangenen Revolution gegen den früheren Präsidenten Leonid Kutschma beteiligt haben.
Moroz war schon seit längerer Zeit ein klarer und eindeutiger Gegner des früheren Präsidenten und ist in diesem Sinn ein Revolutionär der ersten Stunde gegen das korrupte Regime von Kutschma. Nach den jüngsten Wahlen allerdings, bei denen es zu keinen klaren Mehrheiten gekommen ist und die „Orange Partei“ von Präsident Juschtschenko nicht den erwarteten und gewohnten Erfolg erzielen konnte, hat Moroz mit allen Seiten verhandelt und ließ sich letztendlich unter anderem von der Partei der Regionen und dem neuen und alten Ministerpräsidenten Viktor Yanukovich zum Präsidenten des Parlamentes wählen.

Chaotische Situation

Nun, Yanukovich war der große Gegenspieler von Juschtschenko und der von Russland, aber auch von den Magnaten des östlichen Gebietes der Ukraine offen favorisierte Gegenkandidat. Viele haben in diesem Sinn das Verhalten von Moroz als Verrat gesehen. Und auch jetzt noch besteht das ungute Gefühl, dass mit Hilfe von Moroz als neuem Parlamentspräsidenten eine Regierung zustande gekommen ist, die vom Grundsatz her aus der Koalition der Partei der Regionen, also jener sich mehr an Russland orientierenden Partei, und den Sozialisten und den Kommunisten besteht.
Dieser Koalition hat sich in der Folge zwar die Partei „Unsere Ukraine“ von Juschtschenko angeschlossen, aber es kam immer wieder zu Unstimmigkeiten. Zuletzt hat der Fraktionsvorsitzende von „Unsere Ukraine“ schließlich den Rückzug aus der Regierung angekündigt, der durch einige Minister auch vollzogen worden ist – allerdings durch jene Minister, die entweder unabhängig sind oder die von Präsident Juschtschenko selbst ernannt worden sind, wie das der Verfassung gemäß geschieht. Insbesondere der Außenminister, aber auch andere haben ihren Rücktritt zwar eingereicht, aber dieser ist inzwischen gewissermaßen eingefroren. Es handelt sich also um eine äußerst chaotische Situation.

Gemeinsame Vorgangsweise

Nach dem ausführlichen Gespräch mit Oleksandr Moroz und Vitaliy Shybko ging es zu einer Pressekonferenz. Dort haben Jan Marinus Wiersma und ich klar festgehalten, dass wir die Ukraine, die für uns insbesondere aus energiepolitischer Sicht hinsichtlich der Verteilung der Energietransporte äußerst wichtig ist, unterstützen wollen. Und wir haben unser großes Interesse an einer Aufrechterhaltung der europäischen Orientierung herausgestrichen.
Wir haben Verständnis dafür, dass die Ukraine in gewissem Sinn zwischen der EU und Russland „eingezwängt“ ist und durchaus eine eigene Position bezieht. Dieser Prozess wird zweifellos einige Zeit dauern. Trotzdem muss klar sein, dass, wenn man mit der Europäischen Union eng zusammen arbeiten möchte, eine gemeinsame Vorgangsweise, etwa in der Energiepolitik, unumgänglich ist.

Bei Innenminister Yuri Lutsenko

Am Abend haben wir ein sehr ausführliches Gespräch mit Innenminister Yuri Lutsenko geführt. Lutsenko ist ein noch relativ junger Revolutionär der ersten Stunde der Orangenen Revolution. Er war Mitglied der Sozialistischen Partei, ist allerdings ausgetreten, nachdem diese die neue Regierung – in der er selbst Innenminister ist – mitgebildet hat. Lutsenko ist in der Regierung geblieben, wohl nicht zuletzt auf Wunsch von Präsident Juschtschenko, der ihn in den vergangenen Tagen mehrmals hin und her schwankend gebeten hat zurückzutreten und dann doch wieder aufgefordert hat zu bleiben.
Das hat das chaotische Bild, das wir uns ohnehin schon gemacht hatten, noch verstärkt. Ohne Präsident Juschtschenko persönlich getroffen zu haben, hat er bei mir den Eindruck eines unentschlossenen, sich nicht klar orientierenden und auch keine klar Orientierung gebenden Präsidenten erweckt. Das macht die Gesamtlage zweifellos nicht leichter.

Kampf gegen die Korruption

Wir diskutierten mit Lutsenko über die generelle politische Lage und einige spezielle Bereiche seines Ministeriums. Was die politische Lage betrifft, so sieht er die Gefahr nicht so sehr von Premierminister Yanukovich direkt ausgehend, sondern vielmehr von Personen aus seinem Umfeld, die jetzt nach der Regierungsbildung verschiedene Positionen besetzen wollen. Das ist auch in so genannten „lupenreinen“ Demokratien nichts Ungewöhnliches. Ich denke beispielsweise an jene „Umfärbungsaktionen“, die die rechte Regierung auch in Österreich durchgeführt hat.
In einer derart jungen Demokratie wie der Ukraine ist es allerdings besonders problematisch, wenn in Verbindung mit der Wirtschaft und vielleicht auch mit kriminellen Vereinigungen Positionen neu besetzt werden. Und genau diese Entwicklung erachtet Innenminister Lutsenko in der gegenwärtigen Situation als gefährlich.
Was seinen unmittelbaren Aufgabenbereich betrifft, so geht es in erster Linie um den Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Lutsenko vermittelte uns, dass hier bereits einiges gelungen ist, dass er aber auch immer wieder behindert wird, unter anderem vom Generalstaatsanwalt. Dieser hat erst kürzlich verhindert, dass ein Mann aus dem Osten der Ukraine, der beschuldigt wird, 52 Menschen zu Tode gebracht zu haben, nicht in Gewahrsam genommen worden ist und sich nach wie vor auf freiem Fuß ist. Und das, obwohl der Innenminister den Antrag auf Verhaftung gestellt hat.

Einfallstor für MigrantInnen

Eine weitere wichtige Frage ist die Migration. Die Ukraine mit ihrer offenen Grenze gegenüber Russland – es gibt praktisch keine markierte Grenze – ist ein Einfallstor für MigrantInnen. Das ist auch der Grund, warum der Westen bisher nicht bereit gewesen ist, Visaerleichterungen vorzunehmen. Man befürchtet, dass unzählige illegale MigrantInnen von hier aus auf das Gebiet der Europäischen Union eingeschleust werden könnten.
Der Innenminister ist bereit, ein Rücknahmeabkommen zu schließen, um die illegalen MigrantInnen im Falle einer Ausreise wieder zurückzunehmen. Er hat allerdings derzeit keine Möglichkeit, sie auch unterzubringen. Dazu müssten erst entsprechende Auffanglager geschaffen werden.
Das Gespräch mit Lutsenko war insgesamt sehr locker. Man kann einen Menschen nach einem derart kurzen Gespräch nicht wirklich beurteilen, aber insgesamt scheint mir Lutsenko doch eine Persönlichkeit zu sein, die für die Zukunft des Landes eine bedeutende Rolle spielen kann. Er hat klare Vorstellungen und offensichtlich auch genügend Standfestigkeit, Flexibilität und Geschicklichkeit, um seine Politik zwar mit Mühe, aber doch auch gegen Widerstände durchzusetzen.

Beim Chefberater Juschtschenkos, Vitaliy Gayduk

Heute führten wir zunächst ein Informationsgespräch in der Vertretung der Europäischen Kommission in Kiew. Auch hier erörterten wir mit dem Chef der Kommissionsvertretung und seiner politischen Beraterin die politische Lage. Im Anschluss ging es dann zum Vorsitzenden des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Vitaliy Gayduk, der einer großen Institution vorsitzt, die verschiedene Studien erarbeitet.
Im Wesentlichen übt Gayduk, der vor kurzem in diese Position ernannt worden ist, aber die Funktion eines Vertrauensmannes und Sicherheitsberaters von Juschtschenko aus. Er war früher stellvertretender Premierminister und hatte unter Kutschma schon große Schwierigkeiten. Gayduk kommt aus dem Osten, also jenem Gebiet, das Premierminister Yanukovich vertritt, ist aber einer jener Wirtschaftskapitäne, die auf Juschtschenko gesetzt haben.

Energiepolitisches Dreieck Russland-EU-Ukraine

Wir diskutierten mit Gayduk ausgiebig, vor allem über die Frage der Energiepolitik. Er vertritt eher die russisch-kritische Seite, und trotzdem betonte er, dass an einer engen Zusammenarbeit mit Russland kein Weg vorbeiführe und dass vor allem ein Dreieck Russland-EU-Ukraine wichtig sei, um eine solche Zusammenarbeit entsprechend auszubauen. Alle Versuche, die Ukraine gegen Russland auszuspielen, würden einen unseligen Weg darstellen. Im Gegenteil, nur Kooperation und gegenseitige Abhängigkeit könnten nach Vorne führen.
Gayduk zeigte sich zudem überzeugt, dass die Preise für Energie mittel- bis langfristig steigen und sich an die Weltmarktpreise angleichen werden, was aus seiner Sicht auch einen Vorteil hat. Immerhin sei es dann auch möglich, die Fragen des Energiesparens und der Energieeffizienz in der Ukraine entsprechend stärker zu vertreten. Die Energieverschwendung, die es dort derzeit gibt, ist nicht nur für ihn inakzeptabel.

Bei Premierminister Viktor Yanukovich

Nach dem Gespräch mit Vitaliy Gayduk trafen wir schließlich Premierminister Viktor Yanukovich. Ich kenne Yanukovich von Bildern, insbesondere aus den Zeiten der Orangenen Revolution, auf denen er stets als Finsterling, als Handlanger Moskaus und mafiöser Strukturen aus dem Osten der Ukraine dargestellt worden ist. Vielleicht war er das auch, vielleicht ist er es noch immer.
Der Eindruck, den er auf mich gemacht hat – und das wurde von westlichen Vertretern schon vorausgesagt – war jedenfalls durchaus positiv. Yanukovich gab sich sehr locker, war freundlich, hat sich klar zu Europa und auch zum Beitritt zur Welthandelsorganisation bekannt. Letzterer soll so vorbereitet sein werden, dass er im Beginn nächsten Jahres, etwa im Februar, über die Bühne gehen kann. Es war nichts, was wir nicht mit Genugtuung aufnehmen hätten können.

Keine mahnenden Zeigefinger

Dasselbe galt auch hinsichtlich der energiepolitischen Beziehungen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union einerseits und der Ukraine und Russland andererseits. Manche meinen, Yanukovich sage jedem das, was er hören wolle – das kann ich nicht beurteilen. Aber ich meine, dass die Dinge ja auch geschehen. Es nutzt ja nichts, wenn sich Yanukovich beispielsweise auf der einen Seite zum Beitritt zur WHO bekennt und auf der anderen Seite keine entsprechenden Maßnahmen gesetzt werden. Was zweifellos verzögert wird, ist der Beitritt zu NATO. In dieser Frage gibt es eine zögerliche Haltung – zum einen mit dem Argument der Bevölkerung, die ja nicht mitwirkt. Zum anderen spielt wohl aber auch die russische Skepsis und Ablehnung dieses Beitritts zur NATO eine Rolle.
Mir scheint es allerdings durchaus verständlich, dass ein Land wie die Ukraine in diesem Bereich etwas vorsichtiger vorgeht. Das bedeutet ja nicht, dass man nicht auch engere Beziehungen zur NATO gestalten kann. Die Ukraine von Seiten des Westens in eine Situation hineinzudrängen, die neue Konflikte mit Russland mit sich bringen könnte und die auch in der eigenen Bevölkerung keine massive Unterstützung hat, scheint mir jedenfalls nicht angebracht zu sein. Man kann nicht von Demokratie und vom Willen der Bevölkerung oder der eigenen Länder, die Entscheidungen autonom treffen müssen, sprechen, und gleichzeitig mahnend den Zeigefinger erheben, wenn die Ukraine nicht von heute auf morgen der NATO beitritt.

Realistische Politik entwickeln

Insgesamt war dieser Besuch für uns äußerst wertvoll, nicht zuletzt für die Festlegung der Positionen nicht nur für die Fraktion, sondern auch für die Europäische Union und für eine klare Orientierung die Fragen der Zusammenarbeit mit Russland betreffend. Es handelt sich dabei um eine sehr kritische Frage, bei der es zahllose Ungereimtheiten gibt. Wir haben vieles an Russland zu kritisieren. Trotzdem müssen wir mit dem entsprechenden Fingerspitzengefühl vorgehen, um unsere Interessen nachhaltig zu vertreten und nicht nur unser Gewissen oder unsere Emotionen zu befriedigen. Und gerade in diesem Punkt ist der Erfahrungsaustausch mit ukrainischen PolitikerInnen wichtig.
Wir müssen eine realistische Politik entwickeln, die darauf abzielt, der Ukraine zu helfen, die richtigen Schritte zu gehen und sie nicht dazu zwingt, unsere eigenen Vorstellungen und Interessen umzusetzen.

Kiew, 20.10.2006