Gefahr für die globale Stabilität?

Wir brauchen eine umfassende europäische Politik, die vor allem eines bedenken muss: Der starke Anstieg der Lebensmittelpreise bewirkt eine Umverteilung in die negative Richtung.
Das Europäische Parlament beschäftigte sich in seiner letzten Strassburgsitzung – nicht zuletzt auf Grund meiner Anregung – mit den vor allem die sozial schwächeren Schichten belastenden Preissteigerungen bei den Grundnahrungsmitteln. Hierzu einige Gedanken.

Zu wenig Aufmerksamkeit für landwirtschaftliche Entwicklungen

Der enorme Anstieg der Lebensmittelpreise, nach den Preiserhöhungen bei Erdöl, Erdgas und anderen Rohstoffen, kam ziemlich überraschend. Viele Faktoren und Entwicklungen haben dazu beigetragen. Der steigende Konsum in einer Reihe großer Schwellenländer sowie Verschiebungen in der Konsumstruktur in ebendiesen Ländern sind zweifellos ein wesentlicher Faktor. Der vermehrte Fleischkonsum als Form der Nahrungsmittel mit erhöhtem Proteingehalt führt in der Folge zu erhöhtem Bedarf an Futtermitteln. Deren Anbau und Konsum verdrängt wiederum den Anbau von Nahrungsmitteln für den menschlichen Gebrauch.
Klimatische Veränderungen – mehr Überschwemmungen und erhöhte Dürreperioden – leisten ebenfall einen Beitrag zur Minderproduktion und Verknappung. Hinzu kommen Verdrängungsprozesse durch eine erhöhte Produktion von Biosprit. All diese Veränderungen treffen in einer Zeit aufeinander, in der landwirtschaftlichen Entwicklungen zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Die Konsequenzen ziehen

Die oftmals einseitige Entwicklungsstrategie in Richtung Industrie und Dienstleistungen vernachlässigte den landwirtschaftlichen Sektor. Dies führte überdies zu einer extremen Landflucht und zu einer dementsprechenden Urbanisierung mit neuen Ungleichgewichten und vor allem zusätzlicher Ungleichheit. Auch viele politische Strukturen in den Entwicklungsländern, aber auch in den die Entwicklungspolitik bestimmenden Ländern, waren nicht an einer ausgeglichenen und ausgleichenden Struktur interessiert. Für die politisch-wirtschaftlichen Machtkomplexe und deren Träger war aus der ausbalancierten, eine gesunde und nachhaltige landwirtschaftliche Struktur pflegende Wirtschaftspolitik weniger zu holen als aus einseitigen Entwicklungsprojekten, insbesondere im Rohstoffsektor wie Erdöl und Erdgas, Diamanten, etc. Das rächt sich jetzt.
Sowohl die Entwicklungs- als auch die Außenpolitik, aber auch die Energiepolitik haben diese Gefährdungen übersehen oder missachtet. Insgesamt ist der Anteil der Unterstützung des Landwirtschaftssektors im Rahmen der Entwicklungshilfe zurückgegangen. Ein Teil der Kritik gilt leider auch für die EU, obwohl vielleicht die europäische Entwicklungspolitik noch am ehesten den Gedanken einer ausgeglichenen Entwicklungspolitik verbreitete. Jetzt gilt es, die Konsequenzen zu ziehen.

Umverteilung in die negative Richtung

Wir brauchen eine umfassende europäische Politik, die vor allem eines bedenken muss: Der starke Anstieg der Lebensmittelpreise bewirkt eine Umverteilung in die negative Richtung. Zwar verbessert sich die Lage einiger Produzenten, aber auch hier sind die großen Gewinner die Händler und vor allem die Spekulanten, die die Knappheiten in ihrem Interesse ausnützen.
Die große Umverteilung geht hingegen in Richtung der einkommensschwachen Schichten in allen Regionen und so auch in den Mitgliedsländern der Europäischen Union. Daher ist das „Soziale Europa“ wieder gefragt. Die Mitgliedsregierungen sind angehalten, insbesondere die Lage der einkommensschwachen BürgerInnen genau im Auge zu behalten und die entsprechenden Stützungsmassnahmen zu ergreifen.

Unmittelbare Unterstützungsmaßnahmen

Parallel dazu müssen Rat, Kommission und Parlament handeln. Dabei geht es um unmittelbare Unterstützungsmassnahmen in den am meisten betroffenen Ländern und Bevölkerungsgruppen. Der Entwicklung der Landwirtschaft ist weltweit ein erhöhtes Augenmerk zu schenken. Dies gilt auch für bestimmte Regionen in Europa, z.B. am Balkan, in der Ukraine, etc. Kürzlich habe ich im Kosovo die mangelnde EU-Politik auf dem Agrarsektor im Rahmen der „Nachbarschaftshilfe“ deutlich vor Augen geführt bekommen.
Überdies ist die Biospritpolitik einer genauen Nachhaltigkeitsüberprüfung zu unterziehen. Die entsprechenden Forschungen hinsichtlich alternativer Energien, aber auch in Bezug auf eine nachhaltige und gesunde Steigerung der Produktivität der Nahrungsmittelerzeugung sind auszubauen.

Ein Zeichen setzen

Die Entwicklungs- und Außenpolitik muss die Frage der Verteilung ökonomischer und politischer Macht wieder aufgreifen. Wie schon der Nobelpreisträger für Ökonomie Amartya Sen nachgewiesen hat, sind Demokratien im Allgemeinen viel fähiger, auf Ernährungskrisen zu reagieren als Diktaturen und andere autoritäre Systeme. Ungleichheit bzw. Gleichheit von politischer und ökonomischer Macht müssen wieder stärker Themen der nationalen und internationalen Politik werden.
Hier ist die EU als global Player vor allem auch in den internationalen Organisationen und in den direkten Beziehungen zu den betroffenen Staaten gefragt. Nur unter diesen Bedingungen sind die aktuellen Preissteigerungen eine Chance. Sie können ein Motor zu erhöhter Produktion sein und die Preisentwicklung in der Folge dämpfen. Aber dazu ist eine umfassende Strategie notwendig. Die EU ist also gefragt, Zeichen zu setzen.

Straßburg, 13.3.2008