„Grbavica“

Der bosnische Film „Grbavica“ wurde mit Goldenen Bären von Berlin ausgezeichnet und hält die leidvolle Geschichte Bosnien-Herzegowinas in lebendiger Erinnerung.
Ich befinde mich in Sarajewo und bin im Holiday Inn abgestiegen, jenem Hotel, in dem ich auch – damals noch als Vertreter der Stadt Wien – wohnte, als ich anlässlich des 1000. Tages der Belagerung Sarajewos hierher gekommen war. Es war dies eine Demonstration Sarajewos an die Welt, dass es sich auch durch 1000 Tage der Belagerung durch die Serben nicht unterkriegen lässt.

Plastikfolie statt Fensterglas

Nun, das ist schon etliche Jahre her. Seither hat sich einiges verändert, allein wenn ich an das Holiday Inn denke. Damals waren die Fensterscheiben zerschossen und durch Plastikfolien und Pappkartons ersetzt worden, es wurde kaum geheizt, die Atmosphäre war dunkel und düster – es herrschte alles andere als eine friedliche Stimmung.
Heute sind diese Tage vergessen – oder doch auch nicht. Sie werden immer wieder in Erinnerung gerufen. Aktuell beispielsweise durch den Film „Grbavica“, bei dessen Premiere ich heute Abend gewesen bin. „Grbavica“ wurde bei der diesjährigen Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Der Film von Jasmila Zbanic, einer jungen bosnischen Regisseurin, wurde in Kooperation mit Österreich, Deutschland und Kroatien produziert. Ich bin ein bisschen stolz, dass Österreich zu den Koproduzenten gehört und „Grbavica“ durch eine Filmförderung der Stadt Wien mitfinanziert wurde.

Zeichen des Krieges

Bevor ich am Abend zur Filmpremiere ging, war ich am Nachmittag mit meiner Wiener Mitarbeiterin Sonja Kothe, die mich nach Sarajewo begleitet hatte, durch Sarajewo gestreift, um die Stimmung in der Stadt einzufangen. Es war eine durchaus friedliche, fast fröhliche Stimmung. Aber noch immer prägen unzählige Zeichen des Krieges das Stadtbild. Der Sanierungs- und Renovierungsbedarf ist unwahrscheinlich groß.
Am Abend ging es dann schließlich zur Premiere von „Grbavica“ im Olympia-Eisstadium der bosnischen Hauptstadt. Die Karten hatte die Österreichische Handelsaußenstelle, die mich eingeladen hatte, nach Sarajewo zu kommen, besorgt. Der Film hat uns tief beeindruckt.

Bei der Premiere von „Grbavica“

Grbavica ist ein Stadtteil von Sarajewo, in dem eine Mutter mit ihrer Tochter lebt. Die Mutter verbreitet das Gerücht, ihre Tochter sei das Kind eines Kämpfers für die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas, der im Krieg gegen die serbischen Truppen gefallen ist. Damit will sie ihre eigene Ehre, aber auch die ihrer Tochter heben.
Die Wahrheit sieht anders aus. Das Kind ist durch eine Vergewaltigung durch einen Serben hervorgegangen. Diese Wahrheit erschüttert die Tochter zutiefst und lässt in ihr eine Welt zusammenbrechen. Ihr Vater ist kein bosnischer Held, sondern ein serbischer Tschetnik.

Lebendige Erinnerung

Dennoch ist der Film nicht nur eine Anklage an die serbische Besatzung und ein Erinnern an das Leid der vielen bosnischen Mütter. Er richtet sich auch gegen die Schicht der skrupellosen bosnischen Geschäftsleute, die die moralischen Standards des neuen Bosnien-Herzegowinas untergraben. Gezeigt wird auch eine teilweise hemmungslose Jugend, die nicht großartig über das Leid der Vergangenheit und die Schwierigkeit, in Bosnien-Herzegowina zu kämpfen, nachdenkt, sondern das als selbstverständlich voraussetzt.
Ich war auch von den schauspielerischen Fähigkeiten der HauptdarstellerInnen und der Charakterzeichnung der einzelnen Personen beeindruckt. Dieser Film ist zweifellos notwendig, um die Geschichte dieses Landes nicht der Vergessenheit anheim zu geben, sondern sie in lebendiger Erinnerung zu halten.

Leidvolle Prozesse

Man kann ein neues Land zugegebenermaßen nur dann aufbauen, wenn man nicht permanent in der Geschichte verhaftet ist, sondern auch in die Zukunft blickt. Filme und Kunst generell müssen hingegen, ohne permanent anzuklagen und vor allem ohne zu verurteilen und zu generalisieren, die schwierigen und leidvollen Prozesse der Entstehung einer neuen Gesellschaft bzw. eines neuen Staates zeigen. Und genau das hat „Grbavica“ in hervorragender Art getan.
So war dieser erste Tag unseres Besuches in Sarajewo bereits ein Tag des Hineinfühlens in ein schwieriges Land, das noch große Probleme zu überwinden hat. Nicht nur die Probleme der Vergangenheit, nicht nur die nach wie vor bestehenden ethnischen und politischen Spannungen, sondern auch die immens hohe Arbeitslosigkeit und die vielen wirtschaftlichen Probleme müssen gemeistert werden. Aber diese Fragestellungen stehen auf der morgigen Tagesordnung.

Sarajewo, 1.3.2006