Hat Europa ein Herz?

Wir bedürfen noch großer Anstrengungen, um die Seele Europas zu stärken, aber auch dem Herzen Europas einen stärkeren, dauerhaften Rhythmus zu geben.
Besonders interessant auf der Berliner Konferenz „Europa eine Seele geben“ war der Beitrag von Wim Wenders, Regisseur und Präsident der Europäischen Filmakademie.

Unterschiedliche Sichtweisen

Wenders ging in seinem Beitrag davon aus, dass Europa von innen und von außen jeweils sehr unterschiedlich gesehen wird. Von innen betrachtet könne man fast meinen, Europa sei ein Chaos. Von außen betrachtet sehen Europa viele als den Himmel auf Erden und das gelobte Land. Wim Wenders geht es selbst so, und vielen anderen Menschen und Völkern geht es eben so. Lebt man selbst in der Europäischen Union, erscheint sie einem profan, alltäglich und langweilig.
Zum Konferenzmotto „Europa eine Seele geben“ gab Wenders zu bedenken, dass Europa durch seine Kultur bereits eine Seele habe. Aber Kultur würde viel zu wenig als ein Bestandteil dieses Europas erkannt. Er stellte die Frage in den Raum, wer ein Land aufgrund seiner Politik oder seines Marktes liebe. Die Kultur hingegen könne sehr wohl Begeisterung und Liebe hervorrufen.

Mit Mythen und Bildern arbeiten

Wenders machte auch klar, dass die Amerikaner genau diese emotionale Komponente wesentlich stärker berücksichtigt haben und versuchen, ihren „amerikanischen Traum“ auch im kulturellen Bereich, insbesondere im amerikanischen Film, zu präsentieren. Die Tatsache, dass wir uns derart wenig um den europäischen Film und um das europäische Kino kümmern, ist eigentlich gleichzusetzen mit dem Verzicht auf das europäische Leben, die europäische Lebensweise, die europäische Kultur als einen kreativen Faktor.
Es ist eine Herausforderung, Mythen als unsere eigenen Mythen zu verstehen. Man überlässt es letztendlich auch den Amerikanern, das Bild im Sinne der Medien und des Films über die gesamte Welt und dadurch amerikanische Mythen und Erzählungen global zu verbreiten. Wim Wenders meinte außerdem, dass die Art und Weise, wie sich die Europäische Union und ihre Institutionen präsentieren, eine entsprechende Belanglosigkeit zum Ausdruck bringt, bei der das künstlerische und kulturelle Element eine viel zu geringe Rolle spielt. Es ist schwierig, die Kraft der Rede von Wim Wenders in einem solchen kurzen Bericht wiederzugeben. Aus meiner Sicht war es jedenfalls ein sehr deutliches Plädoyer nicht nur für den europäischen Film – was ich voll und ganz unterstütze -, sondern auch dafür, dass europäische Politik und die europäischen Institutionen die Kraft des Bildes stärker als Instrument europäischer Werte vermitteln und auch anwenden.

Die soziale Dimension

Unsere Diskussionen in Berlin haben sich aber nicht auf Kunst und Kultur im engeren Sinn bezogen. Auch andere Aspekte, wie etwa die Außen- und Sozialpolitik, haben eine Rolle gespielt. So hat auch EU-Sozialkommissar Vladimir Spidla eine Rede gehalten. Ich empfinde Spidla als einen sehr sympathischen Mann, wenn er in der Kommission auch mehr als Philosoph als konkreter Praktiker gilt. Es bringt ihm viel Kritik ein, dass er sozialpolitische Anliegen zu wenig massiv und offensiv umsetzt.
In seiner Rede bekannte sich Spidla zum europäischen Wohlfahrtssystem, in dessen Mittelpunkt eine aktive Politik der Armutsbekämpfung steht, das eine Gettoisierung verhindern möchte, das die Sozialsysteme als Universalsysteme und nicht als selektive Systeme versteht und das in diesem Sinn auch den Zugang zur Bildung als universelles Gut erachtet. Spidla machte klar, dass ein längerer Ausschluss vom Arbeitsmarkt, also Langzeitarbeitslosigkeit, einer Vertreibung aus der Gesellschaft gleichkommt – vor allem dann, wenn die Arbeit in der Europäischen Union ein Wert an sich ist.

Gleichgewicht zur Wahrung der Solidarität

Die Europäische Union müsste laut Spidla diese universellen sozialen Werte wieder stärker vertreten. Er machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass ein prekäres Gleichgewicht zwischen jenen, denen finanziell etwas genommen und jenen, denen etwas gegeben wird, hergestellt werden muss. Wenn dieses Gleichgewicht gestört wird, dann würde die Solidarität auf der europäischen Ebene nicht mehr funktionieren.
Ich konnte diesem Gedanken nur eindeutig zustimmen. Es scheint heute vielfach so, dass der Grundkonsens nach dem Zweiten Weltkrieg – Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswachstum stehen nicht im Widerspruch, sondern dienen zum Ausbau der sozialen Sicherheit – in den vergangenen Jahren, parallel zum Neoliberalismus, verloren gegangen ist. Die Neoliberalen meinen, dass Sozialpolitik und der Ausbau der sozialen Leistungen wachstumsfeindlich und -hemmend und damit letztendlich beschäftigungshemmend sind.

Keine Schwarz-Weiß-Muster

Man kann in diesem Bereich nicht in Schwarz-Weiß-Mustern denken, es gibt etliche graue Schattierungen. Auch sozialpolitische Maßnahmen können derart überzogen werden, dass sie genau diesen Effekt erzielen. Aber es kann ebenso dazu kommen – und das ist die Folgewirkung neoliberaler Einstellungen -, dass der Abbau und die Kürzungen von sozialen Leistungen einen negativen Effekt auf das Wachstum und auf die Bereitschaft, die politische und wirtschaftliche Stabilität zu unterstützen, haben.
Wie sollen die Menschen in Europa dem europäischen Projekt große Sympathie entgegenbringen, wenn Kürzungen der Entgelte, der sozialen Leistungen, eine Verlängerung der Arbeitszeit, höhere Arbeitslosigkeit als „Kollateralschäden“ der wirtschaftlichen Entwicklung angesehen werden?

Europas Herz schlägt schwach

Mein Kollege Bronislaw Geremek von den Liberalen, einer der führenden polnischen Intellektuellen, der nach dem Kommunismus auch den Prozess der Öffnung in Richtung einer modernen, liberalen Gesellschaft nicht nur begleitet, sondern aktiv betrieben hat, meinte: „Wir zweifeln, ob Europa eine Seele hat. Aber hat Europa ein Herz?“ Ich versuchte in diesem Kontext darzustellen, dass wir, betrachten wir das Europa von heute, erkennen, dass die Seele unterentwickelt ist.
Die kulturelle Diversität wird nicht wirklich als ein Impuls und eine treibende Kraft der europäischen Einigung gesehen. Aber auch das Herz Europas schlägt besonders schwach. Solidarität im sozialen Gebiet wird von vielen, die dieses Europa von heute betrachten, in hohem Maß niedrig geschrieben. Wir bedürfen so gesehen noch großer Anstrengungen, die Seele Europas zu stärken, aber auch dem Herzen Europas einen stärkeren, dauerhaften Rhythmus zu geben.

Moderne Zivilisation aufbauen

Die Konferenz in Berlin hat unzählige Anregungen und Impulse gesetzt. Und sie hat gezeigt, in welchen Bereichen wir im Interesse einer forcierten Unterstützung des Projektes Europas durch die BürgerInnen noch stärker aktiv werden müssen. Es ist schwer, über derartig vielfältige Begegnungen und Diskussionen ein Resümee zu ziehen. Mir ist jedenfalls bewusst geworden, dass die Vielfältigkeit der Kulturen in diesem Europa unheimlich spannend ist und wir darauf stolz sein können. Mir ist aber auch bewusst geworden, dass die Zivilisationsaufgabe dieses Europas darin besteht, die Vielfalt zu bejahen, aber über sie hinausgehend eine moderne Zivilisation aufzubauen, die nicht engstirnig agiert.
Bei dieser Gelegenheit ist zu erwähnen, dass Wim Wenders mit Recht angemerkt hat, dass die kulturelle Antwort, die heute von der Politik gegeben wird, von der rechten, nationalistischen Seite kommt, die sehr wohl kulturell agiert. Das wiederum unterstützt die Aussagen von Bazon Brock, der meinte, dass Kultur als solches sehr oft begrenzt ist und einzelne Bevölkerungsgruppen und Nationen in den Vordergrund rückt. Hier ein Gleichgewicht zwischen der Vielfalt an Kulturen und der Modernität und Zukunftsträchtigkeit von Zivilisation herzustellen, könnte Europa zweifellos eine Seele geben.

Soziale Aspekte sichtbar machen

Es gilt aber auch, die sozialen Aspekte dieses Europas nicht in den Hintergrund zu drängen, sondern sie im Gegenteil sichtbarer zu machen. In diesem Zusammenhang hat mich besonders gefreut, und ich habe das in meinem Beitrag auf der Berliner Konferenz auch erwähnt, dass wir in der vergangenen Woche die Dienstleistungsrichtlinie verabschieden konnten – und zwar nicht irgendeine Dienstleistungsrichtlinie und schon gar nicht jene Dienstleistungsrichtlinie, die Herr Bolkestein von der ehemaligen Kommission vorgeschlagen hatte.
Nein, wir haben eine Dienstleistungsrichtlinie verabschiedet, die sich klar für die Integration ausspricht und zugleich deutlich macht, dass die ohnehin bereits bestehenden sozialen Verwerfungen nicht weiter verstärkt werden dürfen. Wir können nicht die Zustimmung zu einer Europäischen Union verlangen, die Mechanismen einsetzt, die soziale Errungenschaften abbauen, anstatt diese in eine modernisierende und öffnende Wirtschaft im Sinne der europäischen Einigung und der Globalisierung einzubauen.

Soziale Dimension ist Schlüsseldimension

Die von uns verabschiedete Dienstleistungsrichtlinie ist aus meiner Sicht ein äußerst positiver Beitrag zu dem, was das soziale Europa sein kann. Wenn man sich unter dem sozialen Europa allerdings einen permanenten Ausbau von sozialen Leistungen für jeden, auch für jene, denen es bereits relativ gut geht, vorstellt, macht man sich Illusionen. Man wird sich vor allem auf Verbesserung für die Bedürftigen konzentrieren müssen – allerdings im Rahmen eines Systems der allgemeinen kollektiven Sicherheit.
Ein soziales Europa bedeutet die Wahrung von sozialen Errungenschaften – auch unter erschwerten Bedingungen und in einer internationalen Wirtschaft. Das können wir leisten – schwierig, unter großen Anstrengungen und ohne Garantie für jeden Einzelnen. Als Tendenz und Prägung des europäischen Einigungsprozesses ist es allerdings zu bewerkstelligen, insbesondere dann, wenn wir auch erreichen, dass sich die Konservativen uns anschließen und wir die soziale Dimension Europas zu einer der Schlüsseldimensionen erklären.

Berlin, 18.11.2006