Im „Reich der Mitte“

pekingSchon die ersten Tage in Peking haben die Größe und Widersprüchlichkeit es „Reichs der Mitte“ deutlich gezeigt. Enorme Wolkenkratzer und extrem breite Straßen einerseits sowie schmale Gäßchen und Hinterhöfe anderseits. Luxusgeschäfte und Bettler. Aber all dies ist heute Ausdruck eines dynamischen Wachstumsprozesses mit seinen Verwerfungen.

Zwischen dem alten und dem neuen China

Natürlich gibt es nach wie vor die Paläste, Tempel und Gärten, die Zeugen längst vergangener Glorie sind. Aber sie sind kein Widerspruch zum neuen selbst- und machtbewussten China. Sie werden nicht nur von den vielen Menschen besucht, die Erholung suchen und nostalgisch träumen. Sie passen auch zur Suche nach neuer Glorie des neuen China. Und sie belegen die langfristige Orientierung Chinas. Historische Brüche sind daher nicht so stark spürbar, wie man das bei und in einem kommunistischen Land vermuten müsste.

Das Wanshou Hotel, in dem wir untergebracht sind, liegt in einem echten Wohngebiet. Einerseits sind hier abgeschlossene Wohngebiete sichtbar, die für bestimmte Schichten der Nomenklatura vorgesehen sind. Anderseits kann man wenige Minuten von hier in Wohnanlagen eintauchen, wo die untere bis mittlere Bevölkerungsschicht lebt. Hier spielt sich das Leben auch auf der Straße ab: es wird gekocht, rasiert und die Menschen spielen Karten und Brettspiele. Zum Teil sind die Aktivitäten so „intim“, dass ich mich scheue, zu fotografieren. Aber es sind Eindrücke wie im Film. Ich weiß, dass solche Gebiete immer mehr aus dem Stadtbild verschwinden. Auch hier ist es wie überall auf der Welt, die Modernisierung geht einher mit einem Verschwinden „gemütlicher“ Lebens- und Wohnformen. Das macht uns nostalgisch, vor allem dann, wenn man selbst nicht in diesen kargen und ärmlichen Verhältnissen leben muss. Allerdings, man verliert immer etwas, wenn man auch auf an der anderen Seite etwas gewinnt.

Ambivalente Entwicklung

Diese widersprüchliche, ambivalente Entwicklung entspricht ohnedies der alten chinesischen Auffassung, dass das Gute und das Schlechte nie allein und pur auftreten. Und die Modernisierung, die wir hier bemerken, hat China darüber hinaus ja vom Westen gelernt und nicht selbst erfunden. So sollten wir mit unserer Beurteilung und Kritik eher vorsichtig sein. Grundsätzlich stellt sich in China insbesondere die Frage, wie wir universelle Werte vertreten können, die uns besonders wichtig sind, wenn wir sie immer wieder auch selbst verletzen. Und wie können wir auf die besonderen Bedingungen und Verhältnisse eingehen und sie berücksichtigen, ohne dass wir einem kulturellen Relativismus verfallen?

Was sind nun die besonderen Bedingungen in China, die wir berücksichtigen müssen? In China geht es sicherlich um langfristige Entwicklungen aus dem Inneren heraus und nicht um die kurzfristige Durchsetzung „unserer“ Vorstellungen und Zielsetzungen, die wir von Außen vorgeben. Zweitens geht es um ein Riesenreich, das bevölkerungsreichste Land dieser Erde. Allein in Peking leben 22 Millionen (!) Menschen. Eine solche Stadt so zu organisieren, wie es uns jedenfalls gelungen erscheint, ist eine unheimlich schwierige Aufgabe. Allein daraus ist auch ein Druck auf Disziplin und Sicherheit verständlich. Aber wahrscheinlich kommt auch ein guter Zuschuss an Misstrauen und Angst hinzu. Denn auch während unseres Besuches, jedenfalls beim offiziellen Teil, war ein weitaus übertriebener Sicherheitsaufwand zu bemerken.

Menschenrechte sind unteilbar

Aber auch der Versuch, möglichst rasch aus der Armut heraus zu kommen, schafft besondere Bedingungen. Da ist schon viel geschehen. Nach offiziellen Angaben leben nach wie vor 150 Millionen BürgerInnen unter der Armutsgrenze. Es gibt 200 Millionen ArbeitsmigrantInnen ohne Sozialversicherung. Und allein 60 Millionen Behinderte. Das sind die Probleme, auf die wir uns konzentrieren und die wir lösen müssen, erklärte einer unserer ersten Gesprächspartner der Kommunistischen Partei Chinas. Da zählen die Dutzend Einzelfälle wie jener des Künstlers Ai Weiwei nicht. Denn wir hatten natürlich die Menschenrechtsfrage und auch diesen speziellen Fall angesprochen.

Wir machten klar, dass für uns kein Widerspruch zwischen den sozialen und den individuellen Rechten besteht. Wenn die Partei in China bei der Erstellung des 12. und damit jetzt gültigen Fünfjahresprogramms den Grundsatz geprägt hat „Der Mensch zuerst“, dann sollte das auch für die einzelnen KämpferInnen für die Menschenrechte gelten. Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass für die überwältigende Mehrheit der Menschen der Kampf für höhere Löhne und bessere Lebensbedingungen und vor allem für eine angemessene soziale Absicherung im Vordergrund steht. Das sollten wir auch in Europa berücksichtigen, wenn wir China kritisieren.

Nicht den Lehrmeister spielen

Allerdings sollte China auch im eigenen Interesse den individuellen Rechten mehr Aufmerksamkeit schenken. Denn eine der wichtigsten Aufgabenstellungen, vor die sich China gestellt sieht, ist die Erhöhung der kreativen und innovativen Kraft. Um wettbewerbsfähig zu bleiben bzw. um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, braucht es viele kreative Kräfte und nicht nur eine effiziente Anpassungs- und Lernstrategie. Die Kreativität kann man aber nur schwer steigern, wenn die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit eingeschränkt wird. Innovationsbereitschaft braucht Freiheit und Individualität. Und beides kann durchaus auch mit den wichtigen sozialen Zielsetzungen verbunden werden. Jedenfalls plädieren wir dafür in all unseren Gesprächen. Aber wenn wir gehört werden wollen, dann müssen wir auch die wichtigen sozialen Zielsetzungen voll anerkennen und China bei der Verwirklichung unterstützen. Das bedeutet Dialog. Wir wollen die chinesischen VertreterInnen nicht als Lehrmeister anerkennen und wir selbst sollten das auch nicht sein.

Peking, 15.5.2011