In Aserbeidschan

Die Lage in Aserbeidschan ist reichlich verworren und eine Quelle potentieller Krisen und Konflikte. Es ist zu hoffen, dass sie eingefroren bleiben bzw. doch gelöst werden können.
Die Europäische Union hat in den vergangenen Jahren aus dem Zusammenspiel von Rat, Kommission und Parlament eine „Nachbarschaftspolitik“ entwickelt. Sie hat den Zweck, einen „Ring von Freunden“ – wie es Romano Prodi immer wieder ausdrückte – rund um die EU zu schaffen bzw. zu festigen.

Nachbarschaftspolitik

Wir wollen also in unserer Umgebung Länder haben, die sich zur wirtschaftlichen Entwicklung, zur Demokratie und zu den Grundsätzen der politischen Freiheit bekennen. Und wir wollen Länder in unserer Nachbarschaft, die nicht miteinander im Konflikt leben bzw. solche Konflikte durch Kompromisse und Konsens lösen. Damit wollen wir auch verhindern, dass die Attraktivität der EU wie ein Magnet auf die Nachbarstaaten bzw. Regierungen in diesen Staaten wirkt.
Die Nachbarschaftspolitik hat also den Zweck, dass nicht alle möglichen Kandidatenländer in die EU drängen bzw. dass die Attraktivität für die Zuwanderung abgebremst wird. Einerseits sind die an das Mittelmeer – südlich und östlich – angrenzenden Länder davon betroffen, andererseits die ehemaligen Länder der Sowjetunion, die sich inzwischen unabhängig erklärt haben und an die jetzigen bzw. zukünftigen Mitgliedsländer der EU grenzen bzw. jedenfalls im weiteren Sinn zu Europa (etwa zum Europarat) gehören. Zu erwähnen sind hier die Ukraine, Moldawien, Georgien, Armenien und Aserbeidschan.

Russischer Einflussbereich

Aus der Aufzählung dieser Länder wird klar, dass wir damit in den bisherigen Einflussbereich Russlands „eindringen“, was von dessen Regierung bzw. politischen Verantwortlichen nicht gerne gesehen wird. Nur hat Russland nicht wirklich verstanden, dass Einfluss heute kaum mit Gewalt und militärischen Mitteln dauerhaft aufrechterhalten werden kann. Die Attraktivität des Westens, insbesondere der nahe gelegenen Europäischen Union, ist zu groß, um in Russland eine Alternative zu sehen.
Auch wenn es eine Nachbarschaftspolitik gibt, sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu groß, um sie über einen Kamm zu scheren. Deutlich wurde mir dies am Beispiel Aserbeidschan, das ich diese Woche mit der Delegation für den Südkaukasus – zum ersten Mal – besuchte. Dabei ist mir eingefallen, dass ich den Namen Kaukasus zum erstenmal bewusst wahrnahm, als ich in der Volksschule – von den sowjetischen Besatzungsgruppen organisiert – mit dem Schiff Kaukasus vor meinem Heimatort Bad Deutsch Altenburg nach Theben bei Pressburg fuhr.

Wechselvolle Geschichte

Heute gehört Aserbeidschan nicht mehr zu Russland und hat eine wechselvolle Geschichte mit diesem Staat hinter sich – mit Russland selbst und mit dessen „Verbündeten“ Armenien. Bei einem Besuch des Heldenfriedhofs sahen wir nicht nur die Gräber der Gefallenen im Zusammenhang mit dem Konflikt um Nagorno Karabach, sondern auch der durch russische „Interventionstruppen“ Anfang der neunziger Jahre getöteten Azeris.
Andererseits war der eigentliche Staatsgründer und Übervater, der auch heute noch auf vielen Plakaten zu sehen ist, über Jahrzehnte Mitglied des Politbüros der UdSSR: Gaidar Alijew. Heute ist dessen Sohn Präsident Aserbeidschans und versucht, die autokratische Regierung und die Verwaltung des Landes mit seiner Partei, die im Parlament fast alle Sitze hat, aufrechtzuerhalten.

Beziehungen zu den USA und Europa

Auch ein Teil der Wirtschafts- und Finanzkapitäne, die in Russland investiert bzw. russische Investitionen nach Aserbeidschan gelenkt haben, versucht, die privilegierten Beziehungen zu großen Nachbarn aufrecht zuhalten. Andererseits sind viele westliche Öl- und Gaskonzerne in Aserbeidschan tätig. Daher bemühen sich Präsident Alijew und insbesondere sein Außenminister, der lange in den USA studiert und gearbeitet hat, die Beziehungen zu den USA, aber auch zu Europa aufrecht zuhalten.
Dabei sind die steigenden Einkünfte aus dem Handel mit Erdöl und Erdgas ein Glück und zugleich ein Pech für das Land. Ein Glück, weil mit diesen Geldflüssen der Reichtum des Landes zunimmt und die Budgetsorgen abnehmen. Ein Pech, weil der Druck auf Reformen und wichtige Schritte in Richtung realer Demokratie und Freiheit wegfällt. Und dies macht auch den europäischen Einfluss schwierig. Denn das Land ist auf materielle und finanzielle Hilfe seitens der EU nicht angewiesen – was allerdings wieder gut für das ohnedies knapp bemessene Budget für die Nachbarschaftspolitik ist.

Gesichtsloser Bauboom

Negativ wirkt sich der rasch steigende Geldfluss auch auf die Hauptstadt Baku aus. Denn er bringt einen unglaublichen Bauboom mit sich, mit meist gesichtslosen Hochhäusern, die oftmals auch erhaltenswerte Häuser aus der ersten Ölboom-Zeit aus der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert verdrängen.
Noch könnte ein Gutteil der erhaltenswerten Stadtteile, vor allem an der Bucht des Kaspischen Meeres, erhalten und renoviert werden. Aber dazu braucht es städtebauliche Phantasie und Sensibilität sowie die Bereitschaft, gegen gewissenlose Immobilienhaie vorzugehen. Es gibt im übrigen genug Platzreserven, um in Baku auch eine moderne Stadtentwicklung zu ermöglichen.

Problem Nagorno Karabach

Ein Problem, das alle Gesprächspartner angesprochen haben und das alle anderen Fragen verdrängte, ist die abtrünnige Provinz Nagorno Karabach und die Besetzung der an diesen Landesteil angrenzenden Gebiete durch Armenien. In Nagorno Karabach lebt eine Mehrheit von Armeniern, die sich im Zuge der Unabhängigkeitserklärung von Aserbeidschan „selbstständig“ gemacht hat und vom benachbarten Armenien unterstützt wurde.
Um die Sezession dieser Provinz abzusichern, haben die Armenier die benachbarten Provinzen Aserbeidschans ebenfalls besetzt. Dadurch kam es zur Vertreibung bzw. Flucht der nicht-armenischen Bevölkerung aus diesen Gebieten. Sie lebt vorwiegend in Flüchtlingslagern.

Bedrückende Lager-Situation

Einige davon haben wir in Barda – etwa vier Autostunden von Baku entfernt – besucht. Wie immer ist die Stimmung in diesen Lagern sehr deprimierend und zum Teil von Hass gegenüber „den Armeniern“ und auch gegenüber der eigenen Regierung, die zuwenig tut, um die besetzten Gebiete wieder zurück zu erobern, erfüllt.
In die auch in jüngster Zeit wieder stattgefundenen Begegnungen zwischen den Vertretern beider Regierungen und mit den zur Vermittlung aufgerufenen Vertretern der USA, Frankreichs und Russlands haben diese Vertriebenen wenig Vertrauen.

Historisch belastet

Die Lage insgesamt verbessert das historisch ohnedies belastete Verhältnis zwischen Aserbeidschan und Armenien zweifellos nicht. Die Azeris sprechen sowohl im Zusammenhang mit der ersten Staatsgründung zur Zeit des Ersten Weltkrieges von einem Genozid durch die Armenier als auch in Zusammenhang mit den Kämpfen um Nagorno Karabach.
Die Armenier wiederum beschuldigen Aserbeidschan, die Lebensrechte der in ihrem Land lebenden Armenier nicht zu achten. Hauptinteresse Armeniens ist allerdings, die Türkei zu einer Anerkennung des Genozids an den Armeniern zu Ende des Osmanischen Reichs zu zwingen.

Interessenskarussell

Die Vertreibung und die Tötung einer Unzahl von Armeniern zu Ende des Ersten Weltkrieges lässt den Begriff Genozid (gezielte Vernichtung eines Volkes) unzweifelhaft berechtigt erscheinen. Dennoch sollte sich Armenien jedenfalls aus den besetzten Gebieten in Aserbeidschan zurückziehen und bereit sein, mit diesem Land eine Vereinbarung über eine weitgehende und international garantierte Autonomie hinsichtlich Nagorno Karabach zu treffen.
Vor allem sollten beide Länder die Beschimpfungen und den Hass, die sie über ihre jeweiligen Nachbarn niedergehen lassen, zurückschrauben und damit auch den Boden für eine friedliche Kompromisslösung aufbereiten. Viele meinen allerdings, Russland habe kein gesteigertes Interesse an der Beilegung dieses Konfliktes und stärke Armenien den Rücken. Vielleicht hat auch die Türkei, die bevölkerungsmäßig und sprachlich Aserbeidschan sehr verbunden ist, ebenfalls kein Interesse an der Beilegung des Konfliktes. Und im übrigen grenzt Aserbeidschan noch an den Iran, mit dem es einen Konflikt über die Aufteilung der Begrenzungen am Kaspischen Meer hat, was angesichts der Öl- und Gasfunde im bzw. unter diesem Meer von Bedeutung ist.

Schwelendes Konfliktpotential

Wie man sieht, ist die Lage reichlich verworren und eine Quelle potentieller Krisen und Konflikte. Es ist zu hoffen, dass sie eingefroren bleiben bzw. doch gelöst werden können. Und es ist ebenso zu hoffen, dass trotz dieser Konflikte einerseits und der steigenden Einkommen des Staates aus dem Öl- und Gasgeschäft andererseits die Bereitschaft zu Reformen steigt.
Noch ist die Lage ruhig und mit großen Unruhen wie in der Ukraine bzw. Kirgisistan rechnet heute kaum jemand. Aber es mag in einiger Zeit für die herrschenden Gruppierungen, die sich derzeit in Schach halten und für einen gewissen Immobilismus sorgen, in einiger Zeit zu spät sein.

Denkmal für die Freiheit

Aserbaidschan ist ein islamisches Land mit schiitischer Glaubenshaltung, aber man bemerkt kaum etwas davon. Die Moscheen stammen meist aus früheren Jahrhunderten und man sieht nur selten Frauen mit Kopftüchern. Zum Teil hängt das auch mit der kommunistischen Vergangenheit im 20. Jahrhundert zusammen.
In der Mitte von Baku, vor dem Sitz der iranischen Nationalbank und nahe einer der wenigen Moscheen, steht das Denkmal einer Frau, die sich den Schleier vom Kopf reißt. Dies geht auf einen Zwischenfall zurück, der in den zwanziger Jahren großes Aufsehen erregte. Ein Mädchen einer Baku´er Familie legte den traditionellen Schleier ab und forderte ihre Freundinnen und Kolleginnen auf, dies ebenfalls zu tun.
Damit brachte sie in den Augen der streng religiösen Islame Schande über die Familie. Der Bruder des Mädchens „rettete“ die Ehre der Familie und ermordete dieses. Das Begräbnis jedoch war eine große Demonstration in Solidarität mit der jungen Frau, und dem Bruder wurde der Prozess gemacht.

Gegen den Zwang

Noch heute erinnert besagtes Denkmal an einem prominenten Platz in der Hauptstadt an die mutige Tat dieser jungen Frau. Ich verstehe diese Tat dabei nicht als eine anti-religiöse bzw. anti-islamische Handlung.
Ich selbst trete voll Überzeugung für die Freiheit ein, ein Kopftuch zu tragen oder nicht. Das Denkmal steht für mich aber für die Freiheit und gegen den Zwang. Letztendlich profitieren auch Religionen von der Freiheit und nicht von der Unfreiheit.
Baku, 18.4.2005