Politik und Geschichte

Wir wollen das geschichtliche Bewusstsein unter unseren KollegInnen erhöhen, um so besser gewappnet zu sein, die historischen Wurzeln heutiger Konflikte zu erkennen und entsprechend zu handeln.
In der zweiten Dezemberwoche, einer Fraktionswoche, gab es neben der Ausschussarbeit und den Fraktionssitzungen zwei Initiativen, an denen ich federführend beteiligt war. Zum ersten waren dies spannende Diskussionen zum Thema Minderheiten in der EU mit einem Schwerpunkt zur Situation der Roma.

Bewusstsein für Geschichte erhöhen

Die allgemeine, einführende Diskussion habe ich selbst geleitet. Teilnehmer waren der Minderheitenbeauftragte der OSCE, Knut Vollebaek, der niederländische Europaminister Frans Timmermans und der bekannte ungarische Schriftsteller Gyorgy Konrad.
Mit letzterem hatte mein Kollege Ian Marinus Wiersma mehrere Gespräche, denn wir arbeiten auch an dem Projekt „Geschichte und Politik in Europa“. Dabei wollen wir einerseits das geschichtliche Bewusstsein unter unseren KollegInnen erhöhen, um so besser gewappnet zu sein, die historischen Wurzeln heutiger Konflikte zu erkennen und entsprechend zu handeln. Bei den vielfältigen Konflikten, die heute immer wieder neu aufflammen – vor allem auch Nationalitätenkonflikte – muss man einigermaßen historisch gebildet sein, um sie besser zu verstehen und vor allem um Lösungen zu finden.

Missbrauch durch Politik bekämpfen

Auf der anderen Seite wollen wir den Missbrauch der Geschichte durch PolitikerInnen absolut verhindern und bekämpfen. Inzwischen ist vor allem in Frankreich eine starke Bewegung unter Historikern entstanden, die für die volle, von der Politik unbeeinflussten Freiheit der Geschichtswissenschaft kämpft. Denn sie steht unter besonderem Einfluss der Politik, die durch Beschlüsse der Nationalversammlung historische Ereignisse bewertet und bestimmte Meinungen – Leugnung des Holocausts oder des Genozids an den Armeniern – unter Strafe stellt. Anderseits forderte sie aber auch vor nicht allzu langer Zeit, in den Geschichtsbüchern auch die positiven Seiten des Kolonialismus darzustellen.
Solche Tendenzen und Bewegungen haben wir auch im Europäischen Parlament, natürlich vor allem von der antikommunistischen Rechten, die die Geschichtsschreibung in Europa politisch beeinflussen möchten. Nochmals, ich halte die Diskussion geschichtlicher Ereignisse und auch die Neubeurteilung derartiger Ereignisse auf Grund neuer Tatsachen bzw. Erkenntnisse absolut für erforderlich, gerade für die Gestaltung eines gemeinsamen Europas, das auch in Zukunft bestehen soll. Aber die Politik darf historische Ereignisse nicht definieren und bestimmte Meinungen erzwingen.

Aus der Geschichte lernen

Zurück zu Gyorgy Konrad. Er hielt ein klares Plädoyer für den Vorrang der individuellen Menschenrechte und gegen die Betonung der kollektiven, nationalistischen Rechte. Der Staat sollte allen BürgerInnen gegenüber – unabhängig von ihrer ethnischen, nationalen Herkunft – gleichermaßen gegenübertreten. In einem unserer Gespräche hat er sich allerdings sehr für die ungarischen Minderheiten eingesetzt, die sich auf Grund des „ungerechten“ Friedensvertrags von Trianon außerhalb Ungarns befinden.
Vielleicht besteht da gar kein Widerspruch, handelt es sich doch um eine künstliche Abtrennung von der Heimat. Wie immer, für mich war seine Forderung eine Bestätigung meiner Meinung, dass gerade in diesen Ländern innere Konflikte vermieden werden könnten, falls man die ungarische Minderheit an den jeweiligen Regierungen beteiligt. Das gilt für die Slowakei genauso wie für Rumänien und Serbien, wo dies jetzt der Fall ist. Es geht also nicht um Grenzveränderungen, aber um kluge Integrationspolitik. Das jedenfalls sollte man aus der Geschichte in Europa lernen.

Brüssel, 11.12.2008