Problemkind Serbien

Die Gastfreundschaft in Serbien ist sehr herzlich, die Qualität der Gespräche hervorragend, der generelle Fortschritt in diesem Land geht aber nur sehr zögerlich vor sich und hinterlässt jedes Mal pessimistische Eindrücke.
Am Montagnachmittag war ich von Sveti Stefano zurück in die montenegrinische Hauptstadt gefahren.
Vom Flughafen Podgorica flog ich weiter nach Belgrad. Ich brachte mein Gepäck ins Hotel und fuhr gleich anschließend mit meinem Kollegen Jan Marinus Wiersma ins Zentrum der Stadt, um an einem Abendessen teilzunehmen, zu dem uns unsere beiden sozialdemokratischen Schwesterparteien eingeladen hatten. Mehrere Abgeordnete, die wir zum großen Teil schon kannten, nahmen daran teil, ebenso wie der Regierungschef der Provinz Vojvodina.

Der Mythos

Gerade in Serbien stehen derzeit große Probleme an. Es ist nicht nur das permanente Problem Montenegro, sondern auch das schwerwiegende Problem Kosovo. Der Kosovo ist ein Teil Serbiens – jedenfalls aus der Sicht Serbiens. Im Kosovo befindet sich auch ein nicht unbedeutender Teil der kulturellen Hinterlassenschaft serbischer Vergangenheit.
Die Schlacht am Amselfeld, die die Serben zwar gegen die Türken verloren haben, ist trotzdem quasi ein Gründungsmoment der serbischen Nation. Deshalb ist in Serbien mit dem Kosovo Polje, also dem Amselfeld sowie der Präsenz der serbischen Kirche im Kosovo ein ungeheurer Mythos verbunden.

Zugewinne für die Radikalen

Ein weiteres Problem ist die Flucht und das Untertauchen des vermutlichen Kriegsverbrechers Mladic, der es, wenn er sich nicht stellt, schaffen könnte, dass die Verhandlungen für das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen ausgesetzt werden. All diese wie auch verschiedene innenpolitische Fragen haben wir in unseren Gesprächen angesprochen.
Wir haben vor allem auch auf das Erstarken der rechten radikalen Partei, deren Chef sich ebenfalls als vermutlicher Kriegsverbrecher in Den Haag befindet, hingewiesen. Diese Partei hat gerade in den vergangenen Monaten wieder Zugewinne erzielt. Es steht zu befürchten, dass es in den kommenden Jahren, vielleicht sogar im nächsten Jahr, durch das Aussetzen des Stabilisierungsabkommens, die Loslösung Montenegros und eine aufgezwungene Unabhängigkeit des Kosovo zu sehr starken Reaktionen in Serbien kommen wird – Reaktionen im wahrsten Sinn des Wortes: ein klares Votum für die radikale Partei.

Pessimismus

Die Qualität des Essens an diesem Abend stand in keinem Verhältnis zum zunehmend düsteren Gesprächsverlauf. So verließen wir das ausgezeichnete Restaurant in betrübter Stimmung.
Für mich ist das schon seit einiger Zeit so, wenn ich in Belgrad bin. Die Gastfreundschaft ist sehr herzlich, die Qualität der Gespräche und auch der Küche ist hervorragend, der generelle Fortschritt in diesem Land geht aber nur sehr zögerlich vor sich und hinterlässt jedes Mal pessimistische Eindrücke.

Bei Präsident Tadic

Am nächsten Morgen trafen wir Präsident Tadic, den ich schon lange kenne. Er bekräftigte, dass seine Tür immer offen stehe, wenn wir Belgrad besuchen. Tadic sprach genau jene Probleme an, die wir bereits am Tag zuvor diskutiert hatten. Besonders besorgt zeigte er sich über die Konsequenzen der Nicht-Auslieferung von Mladic. Tadic ist durchaus für diese Auslieferung, meinte aber in unserem Gespräch, ihm seien die Hände gebunden. Er habe zu wenig Information und zu wenig Möglichkeiten, Druck auszuüben, um diese Auslieferung auch tatsächlich zu bewerkstelligen.
Auch die Situation im Kosovo bereitet Präsident Tadic Sorgen. Zur Frage Montenegros ist er hingegen relativ zurückhaltend. Im Gegensatz zu seinem Vater, der sich massiv gegen die Trennung Montenegros von Serbien ausspricht, ist ihm das Kosovo-Problem weitaus wichtiger.

Final status

Die Positionen sind sehr nahe und dennoch unvereinbar. Serbien behauptet, es würde dem Kosovo alles gewähren außer der Unabhängigkeit, die Kosovoalbaner hingegen wollen nichts außer der Unabhängigkeit. Am Tag zuvor haben in Wien die Verhandlungen über die Zukunft des Kosovo begonnen. Dabei stand allerdings nicht die Frage der institutionellen Situation im Mittelpunkt. Vielmehr ging es um die Reformen unabhängig vom final status, also dem Endstatus, den dieses Land haben möchte.
Ich habe in unseren Gesprächen und auch vor JournalistInnen darauf hingewiesen, dass der Endstatus nicht die Unabhängigkeit der beiden Länder ist, sondern die gemeinsame Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Es ist zweifellos eine entscheidende Frage, ob Serbien und der Kosovo als unabhängige Länder der EU beitreten oder in einer Art Staatenbund. Letztendlich muss aber die Vision überwiegen, dass man in der Europäischen Union ohnedies nur gemeinsam bestehen kann. Vergangene und noch bestehende Hassgefühle und Konflikte müssen überwunden werden, um einer gemeinsamen Zusammenarbeit Platz zu machen.

Im serbischen Parlament

Wir trafen in Belgrad auch mit dem Präsidenten und einem der Vizepräsidenten der Fraktion der Demokratischen Partei zusammen. Besagter Vizepräsident ist der mir seit vielen Jahren bekannte aufrechte Demokrat Micunovic. Er hat mich zur Begrüßung herzlich umarmt. Danach besuchten wir das serbische Parlament. Dieses wird, sollte es das gemeinsame Serbien-Montenegro einmal nicht mehr geben, entsprechend aufgewertet werden.
Wir trafen zunächst mit der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei zusammen, die vom früheren Kosovo-Beauftragten Covic geführt wird. Auch ihn kenne ich schon seit langem, schon als ich noch Wiener Stadtrat war, habe ich ihn im Belgrader Rathaus besucht. Damals stand er als Belgrader Bürgermeister noch auf der Seite von Milosevic, hat sich aber dann doch klar von ihm distanziert und sich auf die sozialdemokratische Seite geschlagen.

Wiedersehen mit Labus

Im Parlament trafen wir schließlich auch Vertreter der Demokratischen Partei, bevor wir zum Mittagessen auf die Belgrader Burg fuhren. Zu diesem Essen hatten der stellvertretende Ministerpräsident Labus und die Direktorin des Amtes für Integration in der serbischen Regierung eingeladen.
Labus hatte ich – noch zu Milosevic-Zeiten – schon öfter getroffen – zuerst in seiner Funktion als Leiter eines Wirtschaftsreforminstitutes und später als stellvertretenden Ministerpräsidenten. Er steht nicht der Sozialdemokratie, sondern der Europäischen Volkspartei nahe. Auch er freute sich, mich wieder zu sehen. Ich selbst schätze das Gespräch mit ihm sehr. Er ist einer der Vertreter des modernen, offenen und wirtschaftsliberalen Serbiens und hat viel zur Reformierung seines Landes beigetragen.

Auslieferung von Kriegsverbrecher Mladic

Nach einem kurzen Gespräch mit dem Präsidenten des serbisch-montenegrinischen Parlamentes fuhren wir zum Flughafen. Die Gespräche, die mein Kollege Jan Marinus Wiersma und ich in Belgrad geführt haben, waren sehr spannend und haben die fragile Situation wieder gespiegelt, in der sich Serbien befindet. Wir wollten durch unseren Besuch zudem unsere Sympathie und Unterstützung für dieses Land in einer schwierigen Situation zum Ausdruck bringen.
Wir haben aber auch deutlich darauf aufmerksam gemacht, dass die Überführung von Mladic zum Kriegsverbrechertribunal nach Den Haag absolut notwendig ist. Ich war und bin hinsichtlich der überstarken Konzentration auf Den Haag eher skeptisch. Durch die Auslieferung eines vermeintlichen Kriegsverbrechers allein werden die Probleme des Zusammenlebens wohl kaum gelöst. Der Fall Kroatien hat aber gezeigt, dass der von der Europäischen Union ausgeübte Druck, General Gotovina auszuliefern, letztendlich doch gefruchtet hat. Ich hoffe, dass es auch bei Mladic so wein wird. Je mehr Angeklagte nach Den Haag gebracht werden, desto schwieriger wird es für die Restlichen, sich dem Verfahren weiter zu entziehen. Ebenso wichtig wie die Auslieferung von Mladic wäre jene von Karadcic, der allerdings der Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina zugerechnet wird – zu recht oder zu Unrecht.

Falschmeldungen

Als wir auf unserem Weg nach Brüssel in München zwischenlandeten, wurden wir via SMS darüber informiert, dass Mladic gefangen worden sei. Einer meiner Mitarbeiter berichtete mir, dass in Österreich die Presseaussendung „Swoboda fordert Auslieferung von Mladic“ erschienen war und kurze Zeit darauf berichtet wurde, dass Mladic sich gestellt hat. Nun, zum einen ist mein Einfluss nicht so groß, dass ich dies ausgelöst hätte, und zum anderen hat sich die Nachricht leider als falsch erwiesen.
Ich vermute aber, dass Verhandlungen und Gespräche mit Mladic oder Personen aus seinem Umfeld in Gang gesetzt worden sind. So besteht zumindest die Hoffnung, dass Mladic in der nächsten Zukunft ausgeliefert wird.

Belgrad, 21.2.2006