Ungarn ist europafit

Ungarn kümmert sich sehr um die ungarischen Bevölkerungsgruppen außerhalb der Grenzen des Landes und auch um die Roma und Sinti im eigenen Land.
Gestern und heute unternahm der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei einen Besuch bei unseren Freunden in Budapest, die die Mehrheit im Parlament und die Regierung stellen. Der Bogen unserer Gesprächspartner reichte vom parteilosen Ministerpräsidenten Péter Medgyessy über den Parteivorsitzenden der ungarischen Sozialdemokratie und Außenminister, Laszlo Kovacs, bis zu den einzelnen Ministern und Staatssekretären.
Ungarn scheint auf den Beitritt gut vorbereitet zu sein. Man erhofft sich auch kein Paradies und kein Mekka durch die Mitgliedschaft in der EU. Vor allem gibt es in Ungarn selbst eine Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu lösen, und da ist die Hilfe der EU sehr willkommen. Unsere ungarischen Gesprächspartner wussten allerdings, dass diese Hilfe nur einen kleinen Beitrag darstellen und die eigenen politischen und finanziellen Anstrengungen nicht ersetzen kann.

Regionale Zusammenarbeit

Auf dem Weg zum Flughafen Wien-Schwechat machte ich Halt in Györ, um dort ein Referat über die österreichischen Erfahrungen mit der EU zu halten und vor allem über die Zielsetzungen der EU-Regionalpolitik zu diskutieren. Bei meinen Gesprächen mit dem Bürgermeister der Stadt und anderen Gemeindevertretern sah ich auch dort großen Realismus. Aber meine Gesprächspartner erwarteten und erhofften sich durchaus auch eine enge Zusammenarbeit mit den „angrenzenden“ Bundesländern Burgenland, Niederösterreich und Wien sowie der Region Bratislava.
Und in der Tat ist ja erst seit wenigen Wochen eine solche enge Zusammenarbeit vereinbart worden, die auch gut funktionieren wird. Ungarn ist unter den Erweiterungsländern bekanntlich der Liebling der ÖstereicherInnen, und mit Ungarn könnten daher mehr neue Bereiche der wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit eröffnet werden. Dabei sollten wir aber unsere anderen Nachbarn nicht vergessen. Wie ich immer wieder versuche zu betonen, kann die Erweiterung der Union für Österreich von großem Vorteil sein, aber nur dann, wenn wie sie auch mental-aktiv angehen wird und wir unsere Investitionschancen voll nutzen.

Minderheitenpolitik

Bei der Diskussion in Budapest spielte naturgemäß auch die Minderheitenpolitik eine große Rolle. Ungarn kümmert sich sehr um die ungarischen Bevölkerungsgruppen außerhalb der Grenzen des Landes. In Rumänien sind es ca. 1,6 Millionen Ungarn, das sind über 7% der Bevölkerung und in der Slowakei über 500.000, also fast 10% der slowakischen Bevölkerung. Für das ehemalige Jugoslawien – und auch für Österreich – schätzt man etwa 4% der Bevölkerung.
Die starke Interessensvertretung Ungarns für seine „Landsleute“ außerhalb Ungarns führt zu etlichen Konflikten mit Rumänien, aber vor allem mit der Slowakei. Und in der Tat sollte die Betonung der ungarischen – sprachlichen und kulturellen – Identität die Integration ins Heimatland, also Rumänien und Slowakei, nicht behindern. Zwar mag diese Frage in einem gemeinsamen, vereinten Europa nicht so relevant sein, aber emotional ist die Rolle von Minderheiten, vor allem wenn sie ein benachbartes Mutterland haben, immer noch überaus sensibel. Insbesondere dann, wenn die Frage der Minderheitenrechte von nationalistischen Kräften, aber auch im politischen Tagesgeschäft und in Wahlkämpfen ausgenützt wird.

„Henne oder Ei“?

Bei Ungarn spielt aber noch eine andere Minderheitenfrage eine große Rolle: jene der Roma und Sinti im eigenen Land. Wahrscheinlich gehören bis zu 5% der Ungarn dieser Bevölkerungsgruppe an. Die Roma sind überhaupt die größte Minderheit auf unserem Kontinent und umfassen ca. 8 Millionen Menschen. Sie sind damit größer als viele Staaten, und bei allen Unterschieden in der Lage dieser Minderheit in den einzelnen Ländern gibt es dennoch einige gemeinsame Charakteristika. Die Roma stellen einen überproportionalen Anteil an den armen Schichten dar, sind über die Maßen arbeitslos und von schlechter Gesundheit und genießen eine unterdurchschnittliche Ausbildung.
Man kann jetzt darüber rätseln, was am Anfang der Kette von Diskriminierungen steht, nach dem Motto „Henne oder Ei“. Entscheidend ist, dass wir in Europa auf vielen Ebenen Maßnahmen zu Gunsten dieser Bevölkerungsgruppe setzen. Ungarn hat schon seit einigen Jahren begonnen, diese Probleme der Integration sehr ernst zu nehmen.

Die österreichische Delegation der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, vor allem meine Kollegin Christa Prets und ich, haben uns gerade in den letzten Wochen dieser Frage sehr angenommen und gemeinsam mit Rudi Sarközi, dem Vorsitzenden des Kulturvereins österreichischer Roma, eine Ausstellung und eine Diskussionsrunde in Brüssel organisiert. Dabei haben wir auch folgende Schlussfolgerungen präsentiert:

Die sozialdemokratischen Kernforderungen für eine umfassende Roma-Politik an Europa

1.) Die Integration der Roma und Sinti muss zu einer wesentlichen Aufgabe der EU werden. Der Kommissionspräsident sollte einen Kommissar oder eine Kommissarin ausdrücklich mit der Entwicklung einer integrativen Roma-Politik beauftragen. Diese Politik sollte nicht nur die künftigen 25 EU-Mitgliedsländer, sondern bereits auch die Staaten der nächsten Erweiterungsrunden (z. B. Bulgarien oder Rumänien bzw. die Balkan-Staaten) umfassen.
2.) Jährliche Fortschrittsberichte über den Integrationserfolg oder -misserfolg in den jeweiligen Ländern sind dringend notwendig.
3.) Auch auf europäischer Ebene sollte ein Beirat eingerichtet werden, der es den Vertretern der Roma und Sinti ermöglicht, sich aktiv an der Formulierung und Durchführung einer europäischen Roma-Politik zu beteiligen.
4.) Die EU hat in den letzten Jahren die finanziellen Mittel zu Unterstützung der Sinti und Roma deutlich gesteigert: Allein zwischen 1999 und 2001 wurde der Betrag auf ca. 32 Millionen Euro verdreifacht. Diese Mittel dürfen so lange nicht gesenkt werden, bis die politischen Maßnahmen deutliche Erfolge zeigen.
5.) Insbesondere arbeitsmarktpolitische Projekte müssen gefördert werden, um so die hohe Abhängigkeit von Sozialleistungen zu verringern. Ein weiterer Schwerpunkt muss auf der Verbesserung der Ausbildungssituation liegen. Entsprechende Bemühungen müssen schon im vorschulischen Bereich beginnen und vor allem ein Ziel haben: Die Herauslösung aus der Ghetto-Situation!
Budapest, 3.2.2004