Unterschiedliche Vergangenheit – gemeinsame Zukunft

Eine offene und ehrliche Diskussion über die Entwicklung in, während und nach dem 2. Weltkrieg in Europa ist die Voraussetzung für eine dauerhafte Friedensordnung auf unserem Kontinent.
Die neue Zusammensetzung des Europäischen Parlaments hat sich nach der Erweiterung im politischen Klima deutlich ausgewirkt. Viele Vertreter der neuen Länder geben ihrer kritischen bis negativen Haltung gegenüber Russland Ausdruck. Gleichzeitig wollen sie der Einschätzung und Bewertung des Nationalsozialismus durch den "Westen" eine ebensolche Verurteilung gegenüberstellen. In vielen Fällen wird Nationalsozialismus und Kommunismus bzw. die Diktatur Hitlers mit der Stalins gleichgesetzt.

Neubewertung

Richtig ist, dass wir im "Westen" die negative Erfahrung mit dem Terrorregime und dem Genozid durch die Nazis in den Vordergrund stellen und die Opfer der Stalindiktatur bzw. der kommunistischen Regime allzu leicht vergessen bzw. in den Hintergrund schieben.
Wenn also aus einer "Neubewertung" der kommunistischen Herrschaft keine Relativierung und Verharmlosung der Naziherrschaft entsteht, dann ist der Weg zu einer gemeinsamen historischen Bewertung zweifellos offen. Aber offen muss auch der Weg in eine gemeinsame Zukunft sein. Das ist für die Politik heute das Wichtigste.

Unterschiedliche Erfahrungswelten

Die jüngere Geschichte der Entwicklung in Europa in der Zeit vor, in und nach dem 2. Weltkrieg wird in den verschiedenen Mitgliedsländern, je nach eigener aktiver bzw. passiver Beteiligung, unterschiedlich gesehen bzw. bewertet. Während die Menschen vieler Mitgliedsländer die Nazidiktatur direkt und oft im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib erlebt haben, gilt dies für die Diktatur Stalins bzw. des Kommunismus in den Staaten des sowjetisch dominierten Imperiums "nur" für die östliche Hälfte Europas. Diese Länder haben sowohl durch die Naziherrschaft bzw. faschistischen Diktaturen als auch durch die kommunistischen Diktaturen gelitten.
Demgemäss ist die Kritik am Abkommen von Jalta berechtigt, wenngleich man die ungeheuren Anstrengungen, Leiden und Verluste der Westmächte USA und Vereinigtes Königreich zum Zeitpunkt des Abkommens von Jalta berücksichtigen muss. Eine Fortsetzung des Krieges, nun gegen den Verbündeten Sowjetunion, wäre kaum möglich gewesen.

Das Ziel: Ein neues Europa

Eine offene und ehrliche Diskussion über die Entwicklung in, während und nach dem 2. Weltkrieg in Europa ist die Voraussetzung für eine dauerhafte Friedensordnung auf unserem Kontinent. Aber das Ziel muss die Friedensordnung selbst und der Aufbau eines neuen Europas sein. Eines Europa, in dem die Menschen- und insbesondere auch die Minderheitenrechte aller Bevölkerungsgruppen voll anerkannt werden.
In einem solchen Europa kann mit Fug und Recht sowohl die Integrationsbereitschaft aller BewohnerInnen in die jeweiligen nationalen Gesellschaften verlangt werden wie auch der sensible, tolerante Umgang der Mehrheit gegenüber Minderheiten. Dann können diese durchaus eine verbindende Funktion erfüllen.
Wir müssen ein Europa bauen, in dem die Geschichte und auch das Leid der Vergangenheit nicht instrumentalisiert und "alte Rechnungen" beglichen werden wollen. Ein neues, bisher nie da gewesenes Europa im positivsten Sinn des Wortes stellt vielmehr ein politisch einiges Europa dar.

Geschichte aufarbeiten

Fest steht allerdings, dass in vielen Ländern die Befreiung der Bevölkerung von der Naziherrschaft nicht – oder nur kurzfristig – die Freiheit, sondern erneut Unterdrückung und Diktatur brachte. Der Weg von der Befreiung zur Freiheit war für diese Staaten sehr schmerzhaft und hat sehr lange gedauert!
Bedauerlich dabei ist, dass auch das heutige Russland die Verbrechen des Stalinregimes im eigenen Land, aber vor allem die Vertreibung gegenüber den Nachbarbevölkerungen, nicht entsprechend eingesteht bzw. sich dafür entschuldigt. Dies gilt auch für die Sowjetisierung bzw. Russifizierung, insbesondere in Lettland und Estland. Und ebenso bedauerlich ist, dass ein bestimmtes imperiales Denken und Handeln gegenüber vielen Nachbarländern bis in die heutige Zeit hineinwirkt.
Im jüngsten – autobiografischen – Werk des ungarischen Schriftstellers György Konrad gibt es eine bezeichnende Schilderung der Überlegungen und Diskussionen am Ende des Zweiten Weltkrieges: „Als Argument“ (seiner Sympathie für die Kommunisten) „brachte er vor, dass die Kommunisten die entschiedensten Gegner der Nazis, der Pfeilkreuzler und der Eisernen Garde gewesen seien, weshalb er ihnen am ehesten vertraute. Das sei wahr und auch nicht wahr, sagte ich, denn in Lifolu hatte ich eine Geschichte gehört, wonach aus einem Pfeilkreuzler ein Kommunist geworden sei, aus dem einen Großmaul ein anderes Großmaul. (…) `Ja, ja´, sagte er, auch er könne von solchen Vorkommnissen berichten, doch er fügte hinzu, ich sollte auch daran denken, dass sie uns befreit hätten, und es sei nicht korrekt, wenn ich vergäße, dass ich ihnen mein Leben zu verdanken hätte. Das erkannte ich an, doch ich schuldete schon so vielen Dank dafür, dass ich mit meinen zwölf Jahren noch am Leben war, dass ich in meiner Dankbarkeit träge geworden, Lacis vertrauensselige Großzügigkeit gegenüber dem Kommunismus als übereilt empfand.“
Brüssel, 15.3.2005