Visionen für die Zukunft entwerfen

Die Diskussion und das Ringen um Inhalte und Maßnahmen sozialdemokratischer Natur können nicht kurzfristig abgeschlossen werden.
Die spanische Stiftung "ideas para el progreso" und das "Center for American Progress" haben mich Anfang Oktober zu einer Tagung nach Madrid eingeladen, um über die Lage der progressiven Kräfte in den USA und Europa zu diskutieren.

Europäische Sozialdemokratie in der Defensive

Nach dem Wahlsieg Obamas fühlen sich Demokraten, vor allem die progressiven unter ihnen, sehr gestärkt und optimistisch. Europas SozialdemokratInnen hingegen – mit regionalen Differenzierungen – sind in der Defensive. Im Durchschnitt verlieren sie seit Jahren WählerInnen. Einerseits wird ihre traditionelle Wählerschicht – die klassische Arbeiterschicht – immer kleiner. Andererseits wandern viele dieser WählerInnen zu extremeren Gruppierungen nach links oder rechts ab. Der Wettbewerb um Arbeitsplätze durch MigrantInnen oder ArbeitnehmerInnen in Billiglohnländern wirkt hier genauso wie der dadurch entstehende Lohndruck.
Aber auch die Mittelschichten und die höheren Bildungsschichten finden die traditionelle Sozialdemokratie nicht mehr sehr attraktiv, sie wandern zu den Konservativen. Noch dazu, wo sich viele dieser Parteien vormals sozialdemokratische Zielsetzungen zu Eigen gemacht haben. Sie lassen dabei auch unkonventionelle Typen, die dem klassischen konservativen Bild widersprechen, zu. So wird die klassische Sozialdemokratie zerrieben. Würde sie sich nur mehr auf die traditionellen Schichten konzentrieren, würde der Abbröcklungsprozess genauso weitergehen wie bei einer ausschließlichen Orientierung an der Mittelschicht.

An Strahlkraft gewinnen

Den amerikanischen Demokraten ist es gelungen, aus allen Schichten und Regionen Stimmen zu gewinnen. Den SozialdemokratInnen in Europa hingegen ist der gesellschaftliche und demographische Wandel nicht gut bekommen. Sie haben an Breite der Zustimmung deutlich verloren. Deshalb wäre auch eine einseitige Ausrichtung der Programmatik und damit Verengung der anzusprechenden Wählerbasis katastrophal. Das darf nun wieder nicht heißen, dass wir zu einer Allerweltspartei werden sollten. Aber unsere sozialen Forderungen müssen auch im Interesse der Stabilität der gesamten Gesellschaft gestellt werden. Die Mittelschichten müssen sie mittragen und unterstützen können. Wir müssen auch an intellektueller Strahlkraft gewinnen und Visionen für die Zukunft entwerfen.
Es ist nicht uninteressant zu sehen, dass die Grünen, jedenfalls bei den EU-Wahlen, mit ihrem Konzept der „grünen Beschäftigungsstrategie“ durchwegs gut abgeschnitten haben. Man könnte sagen, ihnen ging es gut, da sie sozialdemokratische Ziele mit „grüner Einfärbung“ vertreten haben. Daraus sollten wir lernen und durchaus eine ökologische Umgestaltung unserer Gesellschaft und Wirtschaft verlangen, aber immer mit klaren sozialen Ansprüchen verbunden.

Gesellschaftliche Entwicklungen nicht verschlafen

Generell meinte ein ehemaliger schwedischer Finanzminister auf der Tagung in Madrid, folgende fünf Kriterien für eine erfolgreiche Strategie auszumachen: Empathie (Emotionen) in der Formulierung der Anliegen, eine einsichtige Analyse der gesellschaftlichen Probleme, die Entwicklung von Visionen, Werte, zu denen man sich klar bekennt und Instrumente und Maßnahmen, um die Ziele umzusetzen. Sicher ist dies alles leichter gesagt als getan, aber das ist aus meiner Sicht ein guter Kriterienkatalog, der jedenfalls eine gute Grundlage für die Überarbeitung einer erfolgreichen politischen Strategie darstellt.
Vor allem darf man gesellschaftliche Veränderungen nicht verschlafen und muss versuchen, insbesondere die Jugend wieder zu gewinnen. Dabei gilt es nicht, ihren Forderungen blindlings nachzugeben. Sie vertragen durchaus eine ehrliche Auseinandersetzung, aber sicher kein Vorbeireden an ihren Vorstellungen und ihrer Kritik. Die Diskussion und das Ringen um Inhalte und Maßnahmen sozialdemokratischer Natur können nicht kurzfristig abgeschlossen werden. Zu tief sind die gesellschaftlichen Veränderungen und zu stark die Einbrüche in unserer Wählerschaft, als dass kurzfristige und oberflächliche Korrekturen genügen würden.

Madrid, 3.10.2009