Wien wächst wieder

Es ist wesentlich positiver, wenn eine Stadt wächst anstatt zu stagnieren oder gar bevölkerungsmäßig zurückzufallen. Wir brauchen diese Dynamik, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Und wir brauchen die Dynamik der Zuwanderung, um gerade auch junge Menschen hereinzuholen.
In der „Presse“ vom 2. April war auf der Titelseite die Schlagzeile zu lesen, dass Wien im Jahr 2035 auf zwei Millionen Einwohner anwachsen könnte. Das ergibt zumindest die Interpretation seitens der „Presse“ über eine Bevölkerungsstudie, die im Auftrag der Stadt Wien durchgeführt worden ist.

Umbruchjahr 1989/90

Dieses Wachstum ist allerdings im Wesentlichen auf Zuwanderung zurückzuführen – nicht zuletzt auch auf eine Zuwanderung aus den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Es ist aber oft so, dass die Dinge nicht so heiß gegessen werden wie gekocht – das trifft auch auf die Bevölkerungsentwicklung zu. Und so nehmen die Entwicklungen selten die prognostizierten Formen. Trotzdem war auch mir in meiner früheren Funktion als Wiener Stadtrat nach Öffnung der Grenzen klar, dass es für Wien kurz- bis mittelfristig zu einer neuen Situation kommen wird.
Ich habe damals die Studie „Entwicklungstendenzen bei wachsender Bevölkerung und offenen Grenzen“ in Auftrag gegeben, die im Jahr 1990 veröffentlicht worden ist. Es ging dabei genau um jene Entwicklung, die sich in den Jahren 1989/1990 abgezeichnet hat, ohne dabei zu wissen, wann es zu einer konkreten Mitgliedschaft der neuen, im freien Europa auftretenden ehemaligen Länder des Ostblocks kommen wird.

Szenario „Offene EG“

Die Institute, die die Studien für die Stadt Wien durchgeführt haben, entwickelten damals unterschiedliche Szenarien. Eines dieser Szenarien trug den Titel „Offene EG“. Als Voraussetzung dieses Szenarios wurde angeführt: „Die EG erklärt sich bereit, ihre ökonomischen Möglichkeiten in den Dienst des gleichgewichtigen ökonomischen Aufbaus von ganz Europa zu stellen. Die Anforderungen sind angesichts der Probleme nicht eben gering. Doch nachdem die ersten Schritte getan sind und positive Wirkungen zeigen, wächst auch das Interesse Japans und der Vereinigten Staaten, in Europa massiv zu investieren. (…)
Die Reformländer nehmen erstaunlich rasch eine positive Entwicklung. Im Europa der Regionen entfalten sich vielfältige Austauschbeziehungen und es kommt zu einem lang anhaltenden und sich selbst tragenden wirtschaftlichen Aufschwung. Wiens geografische Lage, lange Jahre hindurch als Nachteil empfunden, erweist sich nun als großer Vorteil. An den Schnittlinien wichtiger Verkehrswege zu aufstrebenden Volkswirtschaften gelegen, übernimmt Wien gegenüber dem Südosten Europas die Rolle eines dispositiven Zentrums, die es auch stets in Beziehung auf Österreich innehatte. Finanzkraft und in hohem Maße verfügbare technische und anderwertig spezialisierte Intelligenz erzeugen ein stark innovatives Klima. Es setzt eine Zuwanderung ein, die in hohem Maß von qualifizierten Personen getragen ist und sich nicht auf bestimmte Herkunftsländer beschränkt.“

Das „Sao Paulo-Szenario“

Dieses Szenario haben wir damals als relativ positiv transportiert: Ein durch in erster Linie qualitative Zuwanderung hervorgerufenes Wachstum. Nach diesem Szenario sollte Wien im Jahre 2010 1,655.000 Einwohner haben. Inzwischen ist diese Prognose bereits Realität geworden.
Die Studienautoren haben aber auch ein Extremszenario formuliert, das sogenannte „Sao Paulo-Szenario“. Dieses stützt sich auf die weniger qualitative Zuwanderung: „Dem liegt die Annahme zugrunde, dass im jährlichen Durchschnitt 12.000 überwiegend unqualifizierte Arbeitskräfte nach Wien strömen, die sich hier mit schlecht bezahlten und Gelegenheitsarbeiten durchbringen. Nur dem kleineren Teil gelingt es, in Wien Fuß zu fassen. Viele nicht permanente und illegale Arbeitsverhältnisse sind die Folge. (…) Obwohl es der Mehrheit der Zuwanderer nicht gelingt, sich in Wien mit einem Wohnsitz niederzulassen, ergibt sich langfristig dennoch ein Bevölkerungswachstum auf mehr als 1,71 Millionen für das Jahr 2010. Die Zuwandererhaushalte sind, soweit sie sich etablieren können, im Überdurchschnitt kinderreich. Das Arbeitskräfteangebot steigt stark, wobei die wohnhafte Arbeitsbevölkerung zwar nur mäßig über den anderen Szenarien liegt, die nicht permanente Arbeitsbevölkerung (Pendler, Schwarzarbeiter, etc.) hingegen beträchtlich höher ist. (…) Wien könnte unter diesen Bedingungen insbesondere in den Politikbereichen Wohnen, Soziales, Verkehr, Sicherheit und Arbeitsmarkt in Bedrängnis kommen. Zweck des Sao Paulo-Szenarios ist es, in einigen heiklen Bereichen die Dimensionen in einer extremen Entwicklung anzudeuten.“

Qualifizierte Zuwanderung

Die Realität spielt sich nie in Form von Szenarien ab. Trotzdem handelt es sich hier doch um jene beiden Fragestellungen, die uns sowohl in den vergangenen Jahren begleitet haben und die auch jetzt und in den kommenden Jahren unsere politischen Entscheidungen beeinflussen können und müssen. Auf der einen Seite steht – wie dargestellt – das Szenario der qualifizierten Zuwanderung, die natürlich auch immer mit einem gewissen Ausmaß an minderqualifizierten Arbeitsplätzen und -kräften verbunden ist. Und auf der anderen Seite sehen wir uns einer Entwicklung gegenübergestellt, bei der der Schwerpunkt genau auf derartigen Arbeitsplätzen und -kräften liegt und nur wenige qualifizierte Arbeitsplätze neu geschaffen werden.
Wir müssen ohne jeden Zweifel für die erste Variante votieren – mit all den Qualitäten, die eine Stadt zu bieten hat. Das setzt allerdings auch voraus, dass es entsprechende finanzielle Ressourcen gibt, um Leistungen, die insbesondere beim Verkehr und beim Wohnen, aber auch bei der Sicherheit zu gewährleisten sind, entsprechend erfüllen zu können.

Region Ost

Wir würden uns wesentlich leichter tun, wenn es zu einer entsprechenden regionalen Zusammenarbeit kommen würde. In meinem Vorwort, das ich damals für besagte Studie verfasst habe, habe ich auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Wachstum nicht nur im städtischen Bereich selbst abzufangen, sondern wie folgt vorzugehen: „Insbesondere gilt es, sich einem Entwicklungsgedanken, der sich nicht auf Landes- und Stadtgrenzen einengen lässt, zum Durchbruch zu verhelfen. Dies ist eine umfassende Herausforderung an die Region Ost, die neue Bevölkerungsdynamik zu einer Neugestaltung der Entwicklungsplanung großer Akkloramationen zu nutzen. Für Wien ergibt sich die Chance unter den Rahmenbedingungen einer innovativen Ausländerpolitik, die Frage der Sicherung hoher Lebensqualität bei einem bewussten Wachstum auch jenseits der Stadtgrenzen anzugehen.“
Meine Vorstellung war damals, dass es eine Reihe von Wachstumspolen jenseits der Stadtgrenzen gibt – also Städte, die einen zusätzlichen Teil dieses Bevölkerungswachstums auffangen können und die im Falle Wiens gut an die öffentlichen Verkehrsmittel Wiens angebunden sind. Insgesamt sollte es zu einer in einem Interessensverbund von Wien und den umliegenden Städten konzentrierten Stadt- und Regionalentwicklung kommen, bei der die gesamte Region von diesem Wachstum profitieren kann. So hätten auch die ökonomischen Rahmenbedingungen dieser Entwicklung gewährleistet werden können.

Angst vor „Konkurrenz“

Mir ist stets bewusst gewesen, dass die gesamte Entwicklung Probleme im Verhältnis zwischen eingesessener Bevölkerung, die zum Teil selbst erst seit ein paar Jahrzehnten in Wien ist, und den ZuwandererInnen schaffen wird. Diese Tatsache hat uns nicht nur in Wien immer wieder begleitet. In den seltensten Fällen ist die Bevölkerung von der neu zugewanderten „Konkurrenz“ angetan gewesen. Die Konkurrenz bezieht sich dabei auf Arbeitsplätze, Wohnraum, Plätze in der Straßenbahn, etc. Diese Phänomene müssen entsprechend berücksichtigt werden.
Wir haben auf einer Tagung mit dem Titel „Wien wächst wieder“ einen Vergleich Wiens mit ausländischen Städten vorgenommen. Die damals gehalten Referate wurden in einer Publikation veröffentlicht. Auch bei dieser Gelegenheit haben wir unmissverständlich argumentiert, dass nur ein qualitatives Wachstum in Frage kommt. Die verschiedenen Ansprüche, die in einer Stadt gegeben sind, müssen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden.

Erleichterung von legalen Arbeitsverhältnissen

Es ging damals zum einen um den Bedarf der Wiener Wirtschaft an Arbeitskräften. Ich habe in meinem auf dieser Tagung gehaltenen Vortrag gemeint: „Aufgrund des Bedarfs der Wiener Wirtschaft an Arbeitskräften ist auch die Erleichterung von legalen Arbeitsverhältnissen für Ausländer vonnöten. Eine deutlich weniger bürokratisierte Erteilung von Beschäftigungsbewilligungen, die unter Umständen bis zu einem Konzept der generellen Arbeitserlaubnis reichen könnte, würde das legitime Interesse der Wirtschaft an Arbeitskräften wahren und den Zuwanderern das Recht auf angemessene Lebens- und Arbeitsbedingungen geben.“
Gleichzeitig habe ich aber auch zum Ausdruck gebracht: „Auf der Gesetzes- und Verwaltungsebene scheint der wesentlichste Punkt die Eindämmung von Schwarzarbeit zu sein. Schon jetzt hat die Unterzahlung von Arbeitskräften ohne legalisiertes Arbeitsverhältnis eine Dimension erreicht, die weit jenseits der Schmerzgrenzen unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems liegt. Diese Situation schafft unzumutbare Bedingungen für die ausländischen Arbeitnehmer, gefährdet die Arbeitsplatzqualität derer, die in einem legalen Arbeitsverhältnis stehen und schafft darüber hinaus Bedingungen der extremen Ungleichheit, die im Rahmen eines demokratischen Systems nicht absorbierbar sind.“

Ökologische Konsequenzen

Es zeigt sich also, dass sich die Grundsatzfragestellungen im vergangenen Jahrzehnt bzw. in den letzten 15 Jahren nicht wesentlich geändert haben. Wie bereits erwähnt ist zweifellos auch die ökologische Konsequenz eines verstärkten Wachstums eine Grundsatzfrage. Ich hielt dazu damals fest: „Modellhaft kann auch die Stadtentwicklung hinsichtlich der Rücksicht auf ökologische Bedürfnisse sein. Zwar bedeuten eine steigende Bevölkerungsanzahl und eine wachsende Wirtschaft erhöhten Landverbrauch. Aber wie dieser Landverbrauch vor sich geht, ist ein Prüfstein der Kommunalpolitik und nicht zuletzt der Stadtplanung.“
Gerade aufgrund der aktuellen Entwicklung muss ich heute ergänzen, dass wir auch darauf achten müssen, wie wir mit dem Energieverbrauch umgehen, der mit der Stadtentwicklung aufs Engste verbunden ist. Wie man sieht, fallen auch meinen Nachfolgern in der Stadtentwicklung die goldenen Äpfel nicht in den Schoß. Auch sie haben gewaltige Herausforderungen und Probleme zu bewältigen.

Globale Beeinflussungen

Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass es keinen Anlass zu Depressionen und einer negativen Haltung gibt. Aus meiner Sicht ist es wesentlich positiver, wenn eine Stadt wächst anstatt zu stagnieren oder gar bevölkerungsmäßig zurückzufallen. Wir brauchen diese Dynamik, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Und wir brauchen die Dynamik der Zuwanderung, um gerade auch junge Menschen hereinzuholen.
Die Zuwanderung muss aber in einem Gleichgewicht erfolgen und darf nicht völlig dem freien Markt und vor allem nicht dem Schwarzmarkt überlassen bleiben. Gerade auch an diesem Beispiel zeigt sich einmal mehr: Markt und Regulierung müssen Hand in Hand gehen, wenn wir wollen, dass die gesellschaftliche Entwicklung den BürgerInnen Wohlstand bringt. Natürlich spielen nicht nur die regionalen Verhältnisse eine ausschlaggebende Rolle. Auch die globalen Verhältnisse beeinflussen uns und engen unseren Spielraum ein. Ein eingeengter Spielraum ist aber immerhin noch ein Spielraum. Und ein eingeengter Spielraum darf nicht dazu führen, dass wir die uns zur Verfügung stehenden Steuerungsmöglichkeiten vernachlässigen und aufgeben. Wir müssen uns stattdessen umso mehr bemühen, den vielleicht eingeengten, aber doch vorhandenen Spielraum auch wirklich gut auszunützen.

Wien, 3.4.2007